Zum Autor

Thomas Meyer, 41, arbeitete als Werbetexter und als Autor für Magazine. Seit 2012 ist er Schriftsteller – «und freut sich jeden Tag darüber».

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Offengestanden habe ich mich mit der Aufgabe, eine Liebesgeschichte zu schreiben, recht schwergetan. Und zwar so lange, bis ich entschieden hatte, nicht die naheliegende partnerschaftliche Liebe zu beschreiben, sondern die zu meinem Sohn. Das geht ganz leicht. Weil es so leicht geht, ihn zu lieben.

Doch bevor ich mich diesem lustigen kleinen Kerl widme, möchte ich einen Moment bei der Frage verweilen, warum schon zwei blosse Gedanken – einerseits von der Liebe zu einem Partner zu erzählen, andererseits von jener zum eigenen Kind – sich derart unterschiedlich anfühlen können, geschweige denn umsetzen lassen. Weshalb schiebe ich einen Text über die klassische Liebe wochenlang vor mir her, will ihn aber sofort niederschreiben, kaum wechsle ich das Objekt? Warum fällt mir die eine Liebe leicht und die andere schwer? Das bezieht sich ja gewiss nicht nur auf die Beobachtung davon.

Eigentlich, so bin ich überzeugt, fällt es jedem von uns leicht zu lieben. Oder ist uns zumindest einst leichtgefallen. Als Kinder haben wir unsere Eltern über alles geliebt, beide gleich, und wir hören auch nie auf damit, aber Eltern tun bisweilen furchtbar dumme oder überhaupt furchtbare Dinge, und wenn wir die nötige Portion Pech haben, was auf die meisten von uns zutrifft, lernen wir schon früh, dass die Liebe, die wir in die Welt hinausstrahlen, oft als blanker Schmerz auf uns zurückgeworfen wird.

«Es ist die traurige Logik und Ironie der Liebe, dass sich die Verletzten prinzipiell gemäss ihren Verletzungen verhalten und diese damit ständig reproduzieren.»

Das ist keine schöne, sondern eine überaus verstörende Lektion, und sie existiert, wenn man so will, nur aufgrund der menschlichen Unzulänglichkeit. Würden wir die Liebe, die uns entgegengetragen wird, achtsam und liebevoll behandeln, würden uns auf der Strasse nicht so viele frustrierte Gesichter begegnen. Sie alle sind im Herzen Gebrochene, Enttäuschte und Verletzte. Und es ist die traurige Logik und Ironie der Liebe, dass sich die Verletzten prinzipiell gemäss ihren Verletzungen verhalten und diese damit ständig reproduzieren, sowohl gegen ihre Partner wie gegen ihre Kinder. Wo sich die Mutter gegenüber der Tochter schlecht verhält, hat sich schon die Grossmutter danebenbenommen.

Nachdem unser Herz ein paarmal so richtig in Stücke gegangen ist, öffnen wir es nicht mehr leichtfertig. Wir tragen viel Wut und Trauer mit uns herum; zwar nie so viel, dass wir damit einen Therapeuten aufsuchen würden, obwohl das eine gute Idee wäre, aber dennoch genug, um immer wieder entsprechend zu reagieren, wenn uns etwas oder jemand an alten Schmerz erinnert, und auch genug, um uns immer ängstlicher und misstrauischer werden zu lassen. Am Ende, und dieses kommt leider bald, können wir nicht mehr richtig lieben. Wir fürchten, dass wir leiden, wenn wir es tun. So haben wir es gelernt. Und damit die Liebe verlernt. Wir sind anderen höchstens noch fluchtbereit zugeneigt.

Bis dann ein kleiner Mensch in unser Leben tritt. Mein Sohn Levi Max, er wird jetzt dann vier Jahre alt, hat mein Herz gerettet. Das habe ich ihm nicht so aufgetragen, aber es ist, was sein Dasein mit mir macht, indem er mich auffordert, ihn in vielerlei Hinsicht ernst zu nehmen, und mir damit zeigt, wie wichtig es ist, dies auch bei mir selbst zu tun. Seit er da ist und mich braucht, erkenne ich, wie auch ich mich brauche, meine Präsenz, meine Kraft, meinen Schutz und meine Unterstützung. Habe ich mich wirklich dermassen vergessen all die Jahre?

«Ich habe dich so gern – von hier zu den Indianern in Amerika und zurück!»

Kürzlich sagte mein Sohn zu mir: «Ich habe dich so gern…» – er sah zur Decke und überlegte eine Weile, dann breitete er seine Ärmchen weit aus – «…von hier zu den Indianern in Amerika und zurück!» Wer sagt einem schon so was und meint es auch? Wer sagt einem überhaupt ständig nette Dinge? Und: Wann sagen wir nette Dinge zu uns selbst? Nicht nur, dass wir das Wort «nett» verlachen – wir verlachen ja auch die Nettigkeit. Härte, finden wir, ist das Gebot der Stunde, Abwehr und Sicherheit!

Deshalb umarmen wir einander auch viel zu selten, meist ja gar nicht, und wir sagen einander zu selten, dass wir einander zu den Indianern und zurück gernhaben. Wir sind nicht lieb zueinander und verlachen auch das Wort «lieb». Wir sind wohl freundlich, meist sind wir höflich, aber allzu häufig missachten wir einander. Hohn und Spott und Gehässigkeit sind unsere Sprache – weil wir verletzt sind.

Die Rassisten, die sich in diesen Tagen so wüst in den Online-Kommentaren austoben, haben sie wirklich ein Problem mit den Flüchtlingen, denen sie noch gar nie begegnet sind, oder eher mit den Menschen, von denen sie sich Liebe gewünscht, aber nicht bekommen haben? Wir sind verletzt, wir verletzen einander, und dann wundern wir uns, warum das Ergebnis in allgemeiner Verletzung besteht. Dabei wäre es so einfach.

Ich wusste immer, dass ich irgendwann mal ein Kind haben würde, und auch, dass es ein Sohn sein wird. Darum habe ich all meine Spielsachen aufbewahrt. Ich habe sie in Kisten versorgt und auf den Dachboden gebracht und bei jedem Umzug auf den neuen Dachboden gestellt. Mit 35 war ich zwar immer noch nicht Vater geworden, die Kisten mit dem Spielzeug blieben verschlossen, aber neben mir begann sich ein kleiner heller Raum zu öffnen, um Platz zu machen für jemanden; als würde man sich instinktiv nicht in die Mitte eines Sofas setzen, sondern ein wenig an den Rand, weil vielleicht noch jemand kommt. So fühlte ich mich, und ich freute mich still.

«Obwohl ich dieses winzige Geschöpf erst fünf Sekunden lang kannte, zeigt es mir schon sein ganzes grossherziges, humorvolles, feinfühliges Wesen. Wie war das möglich?»

Der kleine Raum wurde heller und heller, und als ich kurz nach meinem 37. Geburtstag Levis Mutter kennenlernte und sie mich beim ersten Treffen rundheraus fragte, ob ich ein Kind hätte, ahnte ich, worauf diese Begegnung hinauslaufen würde. In der Tat, etwas mehr als ein Jahr später, an einem Februarmorgen im Jahr 2012, lag ein kleiner Mensch vor mir. Ein Junge, wie ich noch vor der Hebamme und der Mutter feststellte, die sich zum Glück hatte von mir überzeugen lassen, das Geschlecht nicht zu erfragen, und sowieso komplett weggetreten war von der Geburt. Und obwohl ich dieses winzige Geschöpf erst fünf Sekunden lang kannte, zeigt es mir schon sein ganzes grossherziges, humorvolles, feinfühliges Wesen. Wie war das möglich? Wie konnte der so neu und frisch und doch schon so fertig sein?

Als Paar waren Levis Mutter und ich nicht so gut – eben, die partnerschaftliche, verletzende Liebe. Aber als Eltern überzeugen wir, was meine Theorie bestätigt, dass man Kinder mit jemandem haben sollte, mit dem man sich konstruktiv organisieren kann. Wenn man sich dann auch noch als Paar versteht, ist das toll, aber nicht dies soll die Basis sein, sondern die Fähigkeit, möglichst nüchtern den Alltag bestreiten zu können. Das ist so unromantisch, wie es klingt, und das ist gut so.

Levi Max lebt also halb bei seiner Mutter, halb bei mir, und wenn ich ihn ihr übergebe, bin ich einerseits froh, dass ich Zeit für mich und meine Arbeit habe sowie Zeit, meine Wohnung in einen Zustand zurückzuversetzen, der mir erlaubt, mich so darin zu bewegen, dass ich nicht alle zwei Schritte auf ein Modellauto, mit dem schon ich gespielt hatte, einen Legostein oder einen Apfelschnitz trete. Andererseits vermisse ich Levi nach einer Viertelstunde bereits wieder; sein Lachen, seine Fragen und seine Liebesbekundungen sowie seine putzig-herrischen Befehle, ich solle ihm weiter aus «Walt Disneys Lustigen Taschenbüchern» vorlesen. Ich bin gern allein und ungern ohne Levi; das ist ein Dilemma, aber ein schönes.

«Ich bin gern allein und ungern ohne Levi; das ist ein Dilemma, aber ein schönes.»

Während ich dies frühmorgens schreibe, höre ich, wie mein Sohn die Schlafzimmertür öffnet, und dann seine Schrittchen auf dem Parkettboden, tap-tap-tap; er kommt zu mir ins Wohnzimmer, die Äuglein zugepresst, weil es ihm noch zu hell ist, ich stehe vom Tisch auf, knie mich auf den Boden, er marschiert direkt in meine Arme hinein, und so bleiben wir einen Moment, er atmet an meiner Schulter, ich schliesse die Augen, es ist der beste Moment des Tages und der beste meines bisherigen Lebens.

Es fällt mir leicht, Levi Max zu lieben. Weil ich weiss, dass er mir nichts Böses will? Weil er selbst noch kein gebrochenes Herz hat? Nein. Weil er mich daran erinnert, wie ich selbst einst geliebt habe; wie leicht und frei und ehrlich und offen. Er ist mein weises Lehrerlein. Mehr kann ich über die Liebe nicht sagen, als dass ich erst als Vater wieder weiss, was sie für mich und uns alle eigentlich meint.


Autor: Thomas Meyer
Illustration: Thilo Rothacker