Das erste Couvert war Karl Lüönd nur einen flüchtigen Blick wert. Ein Spendenaufruf, wie es um Weihnachten viele gibt. «Bitte helfen Sie uns mit Ihrem gnädigen Obolus», bat mit einigem Pathos die Pfarrei San Martino in Malvaglia. Die 1603 fertiggestellte Kirche im Tessiner Bleniotal ist baufällig, es braucht weiteres Geld, um sie zu erhalten.

Nach Neujahr änderte das Wetter, und den Publizisten aus Winterthur erreichten prompt weitere Hilferufe aus dem Süden, gespickt mit Ausrufezeichen. «Der Schnee droht das Dach unserer Kirche einzudrücken!» Es ging um die Pfarrkirche San Gottardo in Intragna im Centovalli. Ganz in der Nähe, im Ortsteil Corcapolo, macht die eindringende Nässe den Fresken von San Carlo Borromeo aus dem 17. Jahrhundert zu schaffen. «Bitte geben Sie uns neue Hoffnung im neuen Jahr!» Und zwar möglichst bald, wie es aus Peccia im Maggiatal hiess: «Wir müssen dringend handeln!» Hier sollte das Dach der Kirche San Carlo neu gedeckt werden.

In kurzer Zeit sammelte sich bei Lüönd ein ganzer Stapel solcher Bettelbriefe an. Er wundert sich: «Wie kommen die alle auf mich?» Einmal hatte er letztes Jahr 150 Franken nach Malvaglia geschickt, «der Teufel, pardon: der liebe Gott mag wissen, warum». Mit allen anderen Pfarreien hatte er nie etwas zu tun gehabt. Auch nicht mit der in Olivone, wo man besonders dick auftrug: «Dürfen wir Santa Maria delle Grazie auch in Ihre Hände legen? Ihre barmherzige Spende wird mithelfen, unserer Kirche neues Leben zu geben. Wir finden, sie hat es verdient, dass wir nun alle unsere Herzen öffnen.» Im Subtext: und gern auch die Portemonnaies.

Die schwülstige Sprache ist eine Gemeinsamkeit der Spendenbriefe, deren Kadenz den Eindruck vermittelt, als stünden am Alpensüdhang reihenweise historische Kirchen und Kapellen kurz vor dem Einsturz. Auch die Gestaltung ist nahezu identisch. Und es fehlen überall Telefonnummern oder Mailadressen, was es potenziellen Spendern verunmöglicht, Auskünfte einzuholen.

Zusammen mit den ungefragt übernommenen Personendaten, wie jenen von Karl Lüönd, liegt die Vermutung nahe: Da hat sich ein professioneller Fundraiser dazwischengeschaltet.

«Mit solcher Intransparenz untergräbt man das Vertrauen im Spendenmarkt, das schadet allen.»

Urban Fink, Geschäftsführer Inländische Mission (IM)

«Für solche Sammlungen hätten wir allein zu wenig Kapazitäten», bestätigt Alfio Sartori, Präsident des Vereins Landschaft Bosco Gurin. Das Projekt im Walserdorf: die Sonnenuhr am Turm der 1253 geweihten Pfarrkirche Santi Giacomo e Cristoforo. Das Sgraffito, in Handarbeit vom einheimischen Künstler Hans Tomamichel in den Verputz gekratzt, stammt zwar aus neuerer Zeit, doch es hat seine Strahlkraft verloren. Bevor die Guriner – vielleicht – Geld aus dem Unterland für die Restaurierung der Sonnenuhr einnehmen, müssen sie jedoch erst welches ausgeben: zwischen Fr. 1.40 und 1.60 pro verschicktem Spendenbrief, so Sartori.

Der Rohstoff Emotion

Diese Ausgaben gehen in die Kasse von Alnovis in Rothenburg LU. Die Firma ist auf Dialogmarketing für Non-Profit-Organisationen spezialisiert. Dabei spielt laut Website «der Rohstoff ‹Emotion› eine wichtige Rolle bei der Spendermotivation».

«Mit dem Auftrag für die Tessiner Pfarreien verschaffen wir einem Anliegen Gehör, das sonst untergeht», sagt der stellvertretende Geschäftsführer Moritz Segna. Tatsächlich wäre es für kleine Kirchgemeinden unmöglich, sich ohne bezahlte Hilfe derart forsch zu Wort zu melden. Beispiel Malvaglia: Seit letztem Herbst wurden allein von dort gleich vier breitflächige Sammeloffensiven gestartet, zuletzt Mitte März.

Wer für den Erhalt der bröckelnden Kulturgüter spende, könne sicher sein, dass das Geld in die jeweiligen Projekte fliesse, versichert Moritz Segna. Alnovis partizipiere nicht am Sammelergebnis, sondern verrechne Kosten für die Akquisition.

Barockkirche St. Anna, Roveredo

Wegen des schlechten Zustands geschlossen: Barockkirche St. Anna, Roveredo, Misox

Quelle: Franziska Hidber

Urban Fink sammelt ebenfalls Geld für den Erhalt von renovationsbedürftigen Sakralbauten – eine der Zweckbestimmungen der Inländischen Mission (IM), deren Geschäftsführer er ist. Der Verein tut das mit grösster Sorgfalt: transparent, ausführlich dokumentiert, streng nach den Vorschriften des Datenschutzes. Und stets in Absprache mit den jeweiligen Bischöfen.

Die Epiphaniekollekte 2021 läuft zugunsten der Barockkirche St. Anna in Roveredo im südbündnerischen Misox. Der 1656 geweihte Neubau des Gotteshauses am Eingang zum Val Traversagna ist stark durch Feuchtigkeit gefährdet und musste deshalb geschlossen werden.

Dumm ist nur: Die Pfarrei Roveredo lässt auch über die Fundraiser von Alnovis Geld für St. Anna sammeln. Das geschieht in der gleichen hochtrabenden Manier wie bei den Renovationsprojekten im Tessin («Sie sind der Stern, welcher die Kirche St. Anna in eine strahlende Zukunft führt»). Bei der Inländischen Mission meldeten sich daraufhin aufgebrachte Spenderinnen mit der Vermutung, die IM verkaufe ihre privaten Adressdaten.

Mühsame Anrufe

Das sei nicht der Fall, beteuert Urban Fink. Ihn ärgert das Auftreten der Profi-Geldsammler: «Es wird vertuscht, dass die Sammelbriefe gar nicht direkt von den Pfarreien kommen. Mit solcher Intransparenz untergräbt man das Vertrauen im Spendenmarkt, das schadet allen.» Dem IM-Leiter wurde auch gemeldet, dass bei möglichen Spendern sogar telefonisch nachgefasst wurde. Hinterher erhielten sie Einzahlungsscheine für mündliche Zusagen, die gar nie erfolgt waren.

Auf der Website der IM platzierte Fink darum eine «Warnung» vor Geldsammlungen, bei denen im Hintergrund Fundraiser im Spiel sind. Wohin das führen kann, kennt er aus Erfahrung: «Eine Walliser Pfarrei hatte ein Angebot einer Firma, die als Entschädigung die Hälfte jedes gespendeten Frankens für sich abzwacken wollte.» Das sei ein Spiel mit der Not, sagt Fink: Die Verantwortlichen müssten zusehen, wie ihre Kirchen zerfallen, hätten aber keine Mittel, um etwas dagegen zu tun. «Da klammert man sich an jeden Strohhalm.»

Kirchensteuer fehlt

Dass der Unterhalt von Kirchenbauten vernachlässigt wird, ist nicht nur in den Tessiner Berggebieten ein Problem. Hier ist es aber ausgeprägt, weil es an den meisten Orten keine obligatorischen Kirchensteuern gibt, wie man sie in der Deutschschweiz kennt. Dadurch sind die Pfarreien noch klammer als sonst schon. Aussicht auf öffentliches Geld und solches von Stiftungen gibt es nur, wenn ein Gebäude unter Schutz steht.

Von sich aus wird die Denkmalpflege in der Regel jedoch nicht aktiv – dafür gibt es, gerade im Tessin, schlicht zu viele baufällige Kapellen. Sie sind die ungeliebten Stiefkinder der Schweizer Sakralkultur.

Hinzu kommt, dass es historische Gotteshäuser im Verteilkampf um die knappen Finanzierungsmittel doppelt schwer haben. «Ihr Erhalt ist sehr teuer, gleichzeitig besteht aber nur noch eine geringe Nachfrage, sie zu nutzen», umschreibt Peter Egli vom Schweizer Heimatschutz den Zielkonflikt.

Sammelaktionen bei Privaten im Unterland, die auf eine gewisse Dramatik setzen, seien da gar keine schlechte Option. «Alte Kirchen in verwunschenen Tessiner Bergtälern sind Sehnsuchtsorte», so Egli. Und dass sich mit Emotionen Portemonnaies öffnen lassen, ist im Spendenbusiness eine Binsenwahrheit.

Lesen Sie, was wir beobachten.
«Lesen Sie, was wir beobachten.»
Dani Benz, Ressortleiter
Der Beobachter Newsletter