Das Psychiatriezentrum Münsingen bei Bern ist mit seinen jährlich rund 3500 Patientinnen und Patienten eine der grössten Psychiatrien der Schweiz.

Recherchen zeigen jetzt: Das Zentrum hat jahrelang Anhängerinnen der umstrittenen Solothurner Kirschblütengemeinschaft beschäftigt. 2017 stellte der ärztliche Direktor Thomas Reisch zwei Anhängerinnen der Gruppierung als Assistenzärztinnen ein: A. L. und D. P.*. Beide waren später als Oberärztinnen tätig.

Die Kirschblütengemeinschaft ist eine kontroverse Arbeits-, Lebens- und Therapiegemeinschaft, gegründet vom 2017 verstorbenen Psychiater Samuel Widmer. Ihren Hauptsitz hat sie in Lüsslingen-Nennigkofen SO. Sie zählt nach eigenen Angaben rund 210 Mitglieder, darunter 90 Kinder. Viele Angehörige leben polyamor, die Beziehungs- und Familiengrenzen sind teils aufgelöst. Fachleute wie Susanne Schaaf von Infosekta bezeichnen die Kirschblütengemeinschaft als sektenhaft.

Die Sache mit dem Inzest

Die Psychiaterinnen und Therapeuten der Gemeinschaft vertreten die sogenannte Echte Psychotherapie. Tragende Elemente sind Tantra und die in der Schweiz verbotene Psycholyse, bei der auch Drogen wie LSD und MDMA zum Einsatz kommen. In Berlin hat Psycholyse 2009 zwei Todesopfer gefordert. 

Die esoterische Gemeinschaft steht zudem seit bald zwei Jahrzehnten wegen ihrer Theorie zum sogenannten Inzesttabu in der Kritik. Gründer Samuel Widmer schloss Sex zwischen Therapeut und Patient, sogar zwischen Kindern und Eltern nicht grundsätzlich aus, wie seine Schriften bezeugen. Er hatte zwar immer bestritten, tatsächlich Sex mit Patientinnen zu haben. In einem Videodokument, das dem Beobachter vorliegt, gesteht er genau das aber freimütig ein. 

Psychiatrie-Dachverband: «Kirschblütengemeinschaft eine gefährliche Bewegung»

Bis heute hat sich die Gruppierung nicht wirklich von ihrer Inzesttheorie distanziert. «Die Versuche, Formen des Inzesttabus zu differenzieren, sind hilflos und theoretisch unhaltbar», analysiert der Schweizer Psychiatrie-Dachverband SGPP in einem Gutachten. Insbesondere auch deshalb wurde die «Pseudo-Therapie» per 1. Januar 2021 aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen entfernt. 

Für die SGPP ist die Lüsslinger Gemeinschaft eine «gefährliche Bewegung mit totalitärem Anspruch, die Menschen mit Heilsversprechen ködert und elementare ethische Prinzipien der seriösen und professionellen Psychotherapie verletzt». Das Konzept sei «eingelassen in eine Heilslehre, die den Anspruch der Wissenschaftlichkeit und der Überprüfbarkeit weit hinter sich gelassen hat».

2020 holte der Münsinger Chefarzt Thomas Reisch mit der Psychologin R. N.* eine weitere Kirschblütenvertreterin als Assistenzpsychologin für das Kriseninterventionszentrum des Psychiatriezentrums Münsingen (PZM) an Bord. N. ist die Tochter von Samuel Widmer und heute einer der führenden Köpfe der esoterischen Gemeinschaft. Sie schreibt Bücher, die unter dem Label der Gruppierung vertrieben werden, und tritt in einschlägigen Videos auf, etwa zum Thema «Jugend und Tantra». 

A. L. gehört nachweislich zu den mehreren Hundert Drogentherapeutinnen und -therapeuten, die Samuel Widmer nach eigenen Aussagen allein bis 2015 ausgebildet haben soll. Sie war von 2012 bis 2015 Assistentin in der Ausbildungsgruppe. Ebenfalls auf der Teilnehmerliste: jener Therapeut, in dessen Therapiesitzung in Berlin zwei Menschen gestorben waren. 

D. P. ist verheiratet mit einem Co-Autor eines von Samuel Widmer verfassten «Lehrbuches» über die «Echte Psychotherapie». Das Ehepaar ist zudem am esoterischen Festival «Spirit of Nature», das 2022 in der Fränkischen Schweiz stattfinden soll, als Referenten gelistet.

Nach wie vor in Kontakt  

Am 9. Dezember letzten Jahres gab R. N. ihren Abschied von Münsingen. Zuvor war sie in die PZM-Klinik für Alters- und Neuropsychiatrie die geriatrische Abteilung versetzt worden, «weil dort akut Bedarf nach einer Assistenzpsychologin bestand», so das PZM in ihrer Stellungnahme. Auch die anderen beiden Frauen arbeiten nicht mehr im PZM, sondern an anderen Schweizer Kliniken. 

Mit den Kirschblütlern steht Thomas Reisch nach wie vor in Kontakt. Er sei weder Anhänger noch Mitglied der Kirschblütengemeinschaft, distanziere sich ausdrücklich von deren Methoden, sagt Thomas Reisch gegenüber dem Beobachter. «Es ist aber kein Geheimnis, dass ich eine private Beziehung zu einer Person in Lüsslingen pflege.» Privatleben und Beruf trenne er aber strikt. Dass es sich bei der fraglichen Person um eine der drei ehemaligen Mitarbeiterinnen handle, wollte die Pressestelle des Psychiatriezentrums aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht bestätigen. 

In einem internen Schreiben an die Belegschaft ist die Rede von einer «privaten Beziehung des ärztlichen Direktors zu einer Person, die Mitglied der Kirschblüten-Gemeinschaft ist». 

«Weiterhin kein LSD»

Im November 2021 nahm Reisch an einem Fortbildungskurs zum Thema Psycholyse teil. Veranstalter war die Schweizerische Ärztegesellschaft für Psycholytische Therapie (Säpt), die mit der Kirschblütengemeinschaft nichts zu tun hat, aber ein ähnliches Ziel verfolgte, wenn auch mit wissenschaftlichem Hintergrund: die Etablierung der Psycholyse als anerkannte Therapieform. Es gehöre zu den Aufgaben des ärztlichen Direktors, sich über künftige Entwicklungen bei der Behandlung von therapieresistenten Depressionen zu informieren, heisst es beim PZM. Man teile aber die Haltung, «dass es im PZM auch weiterhin nicht zum Einsatz von LSD oder Psilocybin kommt». 

Ist die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft wie jener der Kirschblütler Privatsache? Die Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) schreibt in einer Stellungnahme dazu: «Da es zum Wesenskern der Kirschblütengemeinschaft gehört, die therapeutische Beziehung aus dem professionellen Kontext herauszulösen, Grenzen zu überschreiten und unter anderem auch das Gebot der sexuellen Abstinenz zu missachten, ist jegliche ideologische Nähe zur Kirschblütengemeinschaft nicht vereinbar mit der Berufsausübung des Psychiaters, der Psychiaterin.» Für jene, die sich nicht an diese Prinzipien halten, «gilt die Nulltoleranz».

Man habe in der Vergangenheit Anhänger der Kirschblütengemeinschaft aus dem Verband ausgeschlossen und werde das auch in Zukunft wieder tun, teilt der Fachverband mit. 

So sieht es auch Erich Seifritz, Präsident der Dachvereinigung der Schweizer Psychiatriekliniken Swiss Mental Healthcare. «Allein eine ideologische Nähe zum Gedankengut der Kirschblütengemeinschaft läuft dem Auftrag einer qualitätsvollen und effektiven sowie ethisch-moralisch höchststehenden Versorgung und damit den Grundprinzipien der SMHC klar zuwider. Wir als Verband, die Institutionen selbst und die Behörden sind hier gemeinsam gefordert.»

Aufsichtsrechtliche Beschwerde

Und wie sieht man das beim PZM? «Wir distanzieren uns ausdrücklich von den wissenschaftlich nicht evidenzbasierten Therapieansätzen dieser Gemeinschaft und lehnen diese klar ab.» Aber man praktiziere eine diskriminierungsfreie Anstellungspraxis, stelle Mitarbeitende unabhängig von Religion, Konfession, Geschlecht, sexueller Orientierung, Herkunft oder Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft wie etwa einer Freikirche ein. Man habe aber klare Verhaltensregeln vereinbart, deren Einhaltung auch kontrolliert wurde. Beschwerden von Patienten oder Kolleginnen habe es nicht gegeben.

Seit 2017 ist das Psychiatriezentrum Münsingen eine öffentlich-rechtliche Aktiengesellschaft. Alleiniger Aktionär ist der Kanton Bern, dem auch die Aufsichtspflicht obliegt. Bei der Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion ist nun eine aufsichtsrechtliche Beschwerde eingegangen. «Wir werden die Beschwerde behandeln und bei Bedarf weitere Schritte unternehmen», sagt Sprecher Gundekar Giebel.

Für Aufklärung will auch die Berner Grossrätin Melanie Gasser (GLP) sorgen: Sie hat laut dem Lokalsender «Telebärn» eine Motion eingereicht, in der sie den Regierungsrat zu einer «vertieften ausserordentlichen Überprüfung zur Konstellation der therapeutischen Leitung im Psychiatrischen Zentrum Münsingen (PZM)» auffordert.  

* Namen der Redaktion bekannt

Update vom 23. Februar

Untersuchung am Psychiatriezentrum Münsingen eingeleitet – ärztlicher Direktor bis auf Weiteres im Ausstand

Eine externe Untersuchung soll Licht in die Geschehnisse und die allfälligen Auswirkungen auf den Klinikalltag bringen. Dies haben Verwaltungsrat und Geschäftsleitung des PZM beschlossen. Das Untersuchungsgremium ist prominent besetzt. Ihm gehören Erich Seifritz, Klinikdirektor an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, und Wolfram Kawohl, ärztlicher Direktor der Privatklinik Clienia Schlössli und Vizepräsident der Schweizerischen Vereinigung Psychiatrischer Chefärztinnen und Chefärzte, an. Hinzu kommen zwei auf interne Untersuchungen und Arbeitsrecht spezialisierte Vertreter der Zürcher Anwaltskanzlei Vischer.

Der ärztliche Direktor des Psychiatriezentrums Münsingen, Thomas Reisch, wird für die Dauer der Untersuchung in Ausstand treten. Er hatte für die Anstellungen der Kirschblüten-Anhängerinnen verantwortlich gezeichnet. Zudem führt er eine private Beziehung mit einer der beiden fraglichen Psychiaterinnen. Anhänger dieser Gemeinschaft vertreten Therapieansätze, die konträr zur gängigen Lehrmeinung stehen. Für Sektenexperten gilt die Gruppierung als sektennah.

Die Abklärungen des externen Expertengremiums erfolgen unabhängig von der beim Kanton Bern eingereichten Aufsichtsbeschwerde und einer Motion im Grossen Rat. «Selbstverständlich wird das PZM allfällige Abklärungen durch die kantonalen Behörden ebenfalls vollumfänglich unterstützen», sagt PZM-Verwaltungsratspräsident Jean-Marc Lüthi.

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