Die Besetzung des Bundesplatzes sei «eine Zumutung» gewesen, «eine Frechheit», «ein Saustall». Während der Session gelte ein striktes Demonstrationsverbot, jammerten bürgerliche Politiker. Dabei war das genau der Punkt des Klima-Camps. Nach den Grossdemos des letzten Jahres schaltete die Klimabewegung mit dem «massenhaften zivilen Ungehorsam» einen Gang höher und wollte so das Parlament unter Druck setzen. 

Hinterher zeigten sich die Klimabewegten enttäuscht, dass nur über die Form ihres Protests und nicht über ihr Anliegen diskutiert wurde. Dabei könnten sie die bürgerlichen Wutausbrüche als Zeichen der Anerkennung deuten, sagt Chris Hedges. «Je effektiver und störender eine Bewegung ist, desto mehr wird die Elite versuchen, sie zu diskreditieren.»

Der Amerikaner, der dank Heirat den Schweizer Pass besitzt, hat in den vergangenen 40 Jahren soziale Bewegungen auf der ganzen Welt hautnah miterlebt. In den Achtzigerjahren arbeitete er als Kriegs- und Krisenberichterstatter in El Salvador, erlebte das Ende des Kalten Krieges in Europa mit, berichtete aus Sarajevo über den Krieg in Ex-Jugoslawien, aus Nordafrika über den Arabischen Frühling, aus Gaza über die Intifada.

Diese Erfahrungen machen den 64-Jährigen zu einem intimen Kenner der Mechanismen von Rebellion und Revolution. Eine seiner Erkenntnisse: «Wenn sich Machtstrukturen wirklich herausgefordert sehen, wird die Bewegung verteufelt, und die Medien werden zum Feind. Wie im Fall von Julian Assange. Wenn sie dich ernst nehmen, wirds hässlich.»

Man gratuliert sich gegenseitig

Danach sah es bei der Bundesplatzbesetzung dann doch nicht aus. Nach der Räumung gratulierten sich Aktivisten und Behörden gegenseitig zu ihrem professionellen Verhalten. Auch sonst wirkte der Protest wenig «revolutionär», er war nicht umstürzlerisch. 

Aber eine Revolution – nichts weniger – ist es, was die Klimabewegung nach eigener Analyse braucht, um die drohende Klimakatastrophe abzuwenden. Wenn man die wissenschaftlichen Tatsachen akzeptiert, ist das, was mit den Mitteln der Demokratie erreichbar ist, zu wenig und kommt zu spät. Klimabewegte sind also keine notorischen Querdenker. Ihre Warnungen stützen sich auf einen breiten wissenschaftlichen Konsens, ihre Forderungen halten sich fast im Wortlaut an internationale Abkommen. Und doch droht die Bewegung zu scheitern.


Beobachter: Herr Hedges, warum gehen nicht viel mehr Leute für das Klima auf die Strasse?
Chris Hedges: Menschen ziehen es vor, die Augen vor der bitteren Realität zu verschliessen, das liegt einfach in unserer Natur.


Selbst angesichts des möglichen Untergangs?
In Sarajevo glaubten die Menschen bis kurz vor Ausbruch des Krieges nicht daran, dass es Bürgerkrieg gebe. Sie lebten in einer multiethnischen Stadt, es gab gemischte Ehen zwischen Serbisch-Orthodoxen und Muslimen – bis das Schiessen losging. Auch meine albanischen Freunde in Pristina, hochgebildete Leute, ahnten nichts. Bis sie von serbischen Paramilitärs aus dem Haus geholt, auf Viehwagen geladen und in Flüchtlingslager nach Mazedonien gekarrt wurden. Dieses Verhalten ist typisch – wir sind so.


Warum fällt es uns so schwer, die Realität zu akzeptieren?
Sich den Tatsachen zu stellen, verlangt, sich aufzulehnen. Wer nicht handelt, kann für eine Weile bequem weiterleben. Deshalb ist immer nur ein kleiner Teil der Bevölkerung dazu bereit.


Braucht eine Revolution nicht den Aufstand von Massen?
Im Gegenteil, die grosse Mehrheit ist passiv. Sie muss auch nicht hinter der Bewegung stehen. Es geht vor allem darum, sie nicht gegen sich zu haben. Drei Prozent sind alles, was es braucht.


Drei Prozent?
Eine Studie über Widerstandsbewegungen kommt zum Schluss, dass 3,5 Prozent der Bevölkerung jedes noch so totalitäre Regime in die Knie zwingen können, wenn sie diszipliniert und organisiert vorgehen.


In der Schweiz wären das zwischen 200'000 (Stimmbevölkerung) und 300'000 Menschen (Gesamtbevölkerung). Aber selbst auf dem Höhepunkt im Sommer 2019 demonstrierten nicht einmal halb so viele fürs Klima.

Dabei wäre angesichts der Fakten ziviler Ungehorsam nötig und legitim – das sagen nicht nur die Aktivistinnen und Aktivisten. So sehen es auch zwei Gerichte im Welschland.

«Rechtfertigender Notstand»

Der Waadtländer Bezirksrichter Philippe Colelough (FDP) sprach Anfang Jahr eine Schar Klimaaktivisten frei, die in einer Lausanner Filiale der Credit Suisse Tennis gespielt hatten. Die Aktivisten hätten mit ihrer Protestaktion zu Recht auf die Verantwortung der Finanzindustrie hingewiesen. Die Credit Suisse habe sich nachweislich geweigert, mit den Aktivisten in einen Dialog zu treten. Und die Politik gehe das Problem höchstens halbherzig an. Das stelle einen «rechtfertigenden Notstand» gemäss Artikel 17 des Strafgesetzbuchs dar. Danach handelt rechtmässig, wer eine Straftat begeht, «um ein eigenes oder das Rechtsgut einer anderen Person aus einer unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Gefahr zu retten, […], wenn er dadurch höherwertige Interessen wahrt».

Das Urteil ging um die Welt – und sorgte unter Juristinnen und Juristen für Stirnrunzeln: Ist der Klimawandel eine unmittelbare Gefahr im juristischen Sinn? Und sind solche Proteste tatsächlich verhältnismässig?

Legitime Schmiererei

Das Kantonsgericht Waadt hob den Freispruch Ende September zwar auf. Doch schon Mitte Oktober kassierte das Genfer Kantonsgericht ein Urteil gegen einen 23-jährigen Klimaaktivisten. Er hatte 2018 die Fassade einer Credit-Suisse-Filiale mit roten Handabdrücken verschmiert. Die Farbe war abwaschbar, die Schmiererei durch den Klimanotstand legitimiert, so das Urteil.

Vor allem ihre Begründungen machen die beiden Urteile bemerkenswert. Deren Quintessenz: In Sachen Klimaschutz versagt die Demokratie seit über 30 Jahren. Das legitimiere auch illegalen Protest. Welche Mittel aber sind gerechtfertigt angesichts der drohenden Apokalypse? Und reichen Aktionen wie die Besetzung des Bundesplatzes aus, um genug Druck zu erzeugen?

Das frage er sich ehrlich gesagt auch, sagte ein welscher Aktivist auf dem Bundesplatz. «Man hört immer von Gandhi, aber es braucht eine Pluralität von Strategien.» Er habe grundsätzlich kein Problem mit gezielten Sachbeschädigungen, wenn es der Sache diene. Für ihn persönlich käme das aber nicht in Frage. Deshalb engagiere er sich bei Extinction Rebellion, die absolut gewaltfrei agiere.

Eine Mitstreiterin sagte: «Es könnte der Sache helfen, wenn andere extremere Aktionen machen.» Der gewaltlose Teil der Klimabewegung stünde dann als die Vernünftigen da, mit denen man reden kann.


Beobachter: Wird sich die Bewegung radikalisieren, nicht länger gewaltlos bleiben?
Chris Hedges: Gewaltlosigkeit ist nicht nur eine moralische, sondern auch eine strategische Frage. Gewalttätige Gruppen spielen immer der staatlichen Darstellung in die Hände, dass diese Menschen gefährlich sein sollen, und isolieren so eine Bewegung. Das liefert dann auch den Vorwand, sie zu bekämpfen. Selbst Lenin war kritisch gegenüber anarchistischer Gewalt, weil er erkannte, dass sie kontraproduktiv war. Darum schleust der Staat auch immer wieder Aufwiegler ein. Logistisch ist es unmöglich, eine Staatsmacht zu stürzen, ausser man hat einen anderen Staat im Rücken. Für eine Widerstandsbewegung geht es deshalb darum, die Machtstrukturen eines Regimes zu erodieren.


Aber wie zersetzt gewaltloser Protest Machtstrukturen genau?
Indem die Fusssoldaten des diskreditierten Systems überlaufen oder sich zumindest weigern, es zu verteidigen. Beim Mauerfall in Ostdeutschland sandte Erich Honecker Fallschirmspringertruppen nach Leipzig, um gegen die Demonstranten vorzugehen. Aber die lokalen Behörden weigerten sich, sie einzusetzen, da ihre Familienangehörigen in der Menge waren. Das wars. Honecker hielt sich nur noch ein paar Tage. Sie können sich jeden erfolgreichen Aufstand anschauen, angefangen bei der Französischen Revolution. Ein Umsturz kann nicht gelingen ohne solche Überläufer.


Die Coronakrise zwingt die Klimabewegung, neue Formen des Protests zu entwickeln. Reicht das Internet?
Ich glaube nicht an den digitalen Aktivismus. Wer allein vor einem Computer sitzt, ist genau da, wo ihn der «Corporate State» haben will. Etwas vom Kraftvollsten an der Occupy-Bewegung vor zehn Jahren war, dass sie die Leute zusammenbrachte. Nachdem die Occupy-Camps geräumt worden waren, beklagten viele der Aktivisten vor allem den Verlust der Volksbibliotheken, wo man sich getroffen und informiert hatte. Dieses Gemeinschaftsgefühl ist unglaublich wichtig. Ich denke, dass es Teil des Problems ist, dass wir alle isoliert sind und uns im Labyrinth der virtuellen Kommunikation verlieren.


Aber ohne Social Media wäre die Klimabewegung kaum denkbar?
Social Media sind ein effizientes Instrument zur Vernetzung und Organisation, aber man darf nicht vergessen, dass der Staat all diese Daten ebenfalls hat. In den USA verfolgte die Polizei im Nachgang der Occupy-Bewegung die Anführer. Sie wusste exakt, wen sie suchte.


Was bleibt den Aktivistinnen und Aktivisten?
Corona wird nicht für immer hier sein. Irgendwann werden wir zurück auf die Strasse können.


Die Jungen, die Digital Natives, mögen einen anderen Bezug zu den Möglichkeiten des Internets haben. Aber die Herausforderung bleibt für diese Bewegung immens. Um die Klimaziele zu erreichen, müsste man Wirtschaft und Gesellschaft wohl komplett umkrempeln, anders geht es nicht. Nicht nur in der Schweiz, sondern weltweit.


Beobachter: Ganz ehrlich: Die Erfolgsaussichten der Klimabewegung sind minim.
Chris Hedges: Darum ist das Einzige, was übrigbleibt, zu versuchen, das System mit massenhaftem, anhaltendem zivilen Ungehorsam zu stören und herunterzufahren. Gruppen wie Extinction Rebellion haben das verstanden. Ich bin aber nicht naiv genug, zu behaupten, dass es funktioniert. Es ist nur die einzige Option.


Warum sollte man sich auf einen Kampf einlassen, der nicht zu gewinnen ist?
Eigentlich geht man häufig in einen Kampf, von dem man annehmen muss, ihn zu verlieren. Aber das bedeutet nicht, dass man nicht kämpfen soll. Nur wer aufsteht, kann gewinnen.


Aber wer lässt sich auf so was ein?
Der Theologe Reinhold Niebuhr schrieb, dass jene, die Ungerechtigkeit und Unterdrückung überwinden, von einem «erhabenen Wahnsinn» befallen sind. Wer sozialen Wandel durchsetzt, folgt einer tiefen inneren Überzeugung, die die Mächtigen jeder Couleur für verrückt oder zumindest für völlig absurd halten. Jede Revolution wird von solchen kompromisslosen Figuren befeuert. Die Menschen scharen sich nur um Leute, die sich selbst aufopfern werden.


Was soll an der Bereitschaft zur Selbstaufopferung inspirierend sein?
Es ist nun mal eine historische Tatsache, dass die meisten Revolutionen scheitern. Und dass jene, die sie anzetteln, am Ende meistens nicht mehr da sind. Wer nur gewinnen will, ist schnell demoralisiert.

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