«Gott ist überflüssig geworden.» Der Zürcher Sektenexperte Hugo Stamm formuliert hart, was der US-Schriftsteller Henry Miller sanfter geschrieben hat: «Ich habe Gott gefunden, aber er ist unzureichend.» Die Zahl der Kirchgänger bestätigt das: Zwölf Prozent der Schweizerinnen und Schweizer bezeichnen sich als atheistisch, 20 Prozent sind konfessionslos, 30 Prozent besuchen nie einen Gottesdienst. Rund 40 Prozent gehen nur für Beerdigungen und Hochzeiten in die Kirche. Das zeigt eine neue Studie des Bundesamts für Statistik.

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Vom Aussterben bedroht ist das Christentum in der Schweiz trotzdem noch lange nicht. In Schrecksekunden, Krisen und scheinbar ausweglosen Situationen wenden sich die meisten Leute nach wie vor reflexartig an Gott. Sogar fast jeder dritte Konfessionslose nimmt in schwierigen Lebenslagen Zuflucht zu Religion und Spiritualität. «Das sind kulturelle Prägungen, kindliche Reflexe, Konditionierungen», sagt Hugo Stamm. Er befasst sich seit über 40 Jahren intensiv mit dem Thema und führt den erfolgreichsten Religionsblog der Schweiz.

Wenn wir etwas nicht verstehen oder verkraften, brauchen wir eine höhere Instanz, die Fragen beantwortet und Trost spendet, so Stamm. Diese höhere Instanz brächten wir nach wie vor mit Gott in Verbindung. Er dient laut Stamm als Hilfskonstrukt, um das Unerklärliche erklärbar zu machen und dem Leiden auf der Welt Sinn zu geben. «Aber wirklichen Trost kann Gott nicht spenden. Er lässt den Leidenden mit seinem Schmerz allein. Der vermeintliche Trost ist Selbsttäuschung», sagt Stamm.

Lieber zum Therapeuten als zum Pfarrer

Die Generation der heutigen Eltern ist noch vom Religionsunterricht geprägt. Sie gibt ihren Kindern religiöse Rituale mit auf den Weg. Für beinahe die Hälfte der Eltern spielen Religion und Spiritualität bei der Erziehung eine «eher oder sicher wichtige» Rolle, zeigt die Studie des Bundesamts für Statistik.

Ewig wird das aber nicht so bleiben. «Je entwickelter ein Land ist, desto kleiner wird die Anzahl gläubiger Menschen», sagt der Religionssoziologe Jörg Stolz von der Universität Lausanne. Schuld daran sei vor allem der wissenschaftlich-technische Fortschritt, unter anderem in der Medizin. «Historisch waren Glauben und Gesundheit eng miteinander verknüpft. Heute aber kann die Medizin so viel, dass man kaum mehr beten muss. Wenn jemand krank ist, hofft man, dass die Ärzte das hinbekommen», erklärt Stolz.

Ein weiterer Grund für die schwindende Gläubigkeit in der Schweiz sei die Konkurrenz durch nichtreligiöse Institutionen. «Vor den 1960er Jahren erfüllte die Religion zahlreiche Funktionen», kommentiert Jörg Stolz die Resultate einer Nationalfonds-Studie. «Die Kirche stellte Krankenhäuser zur Verfügung, Pfarrleute waren oft auch Lehrer. Heute ersetzen weltliche Institutionen hier die Kirche und lösen Probleme, die lange Zeit ins Ressort der Kirche fielen.»

So sprachen die Leute bei emotionalen Problemen früher mit einem Geistlichen. Heute nehmen sie eher die Hilfe eines Psychologen oder Persönlichkeitstrainers in Anspruch. «Wer sich früher Fragen zur Erklärung der Welt stellte, besuchte eine Predigt. Heute kann man auch ein Buch von Stephen Hawking zur physikalischen Entstehung des Universums lesen. Die wissenschaftlichen Antworten existieren neben den religiösen Interpretationen. Sie konkurrenzieren sie sogar.»

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«Im christlichen Glauben muss man auf Erlösung hoffen, es ist eine Gnade. Doch wir haben jede Geduld verloren.»

Hugo Stamm, Sektenexperte

Hinzu kommt, dass wir in einer Zeit des Machbarkeitswahns leben. Der Mensch glaubt, mit Hilfe von Technik, Wissenschaft und Medizin sofort alle Probleme lösen zu können. Stamm: «Im christlichen Glauben muss man auf Erlösung hoffen, es ist eine Gnade. Gott richtet es und eben nicht der Mensch. Doch wir haben jede Geduld verloren.» Hier komme die Esoterik ins Spiel: «Man braucht nicht auf Gott zu hoffen, sondern kann Erlösung durch Rituale, Meditation oder einen spirituellen Meister der Erleuchtung selber erreichen, also durch eigenen Einsatz. Krass ausgedrückt, ist das Selbstvergottung.»

Ganz unschuldig ist die Kirche nicht daran, dass die Bänke leer bleiben. Die Reformierten praktizieren eine zwiespältige Politik der Öffnung, sagt Soziologe Stolz. «Eine Religion, die zu liberal wird, verschwindet früher oder später. Wenn eine Religion zu tolerant, zu offen wird, verschwimmen ihre Grenzen zur Umwelt, und sie wird überflüssig.»

Die reformierte Kirche stecke daher in einem Dilemma. Man wolle aktuell sein, durch Öffnung Toleranz signalisieren, Zugeständnisse an die gesellschaftlichen und ökonomischen Realitäten machen. Die Reformierten unterschieden sich kaum mehr von der Mehrheitsgesellschaft. «So produziert man keine negativen Schlagzeilen. Aber auch keine positiven», sagt Stolz.

Wenn man die Schärfung des eigenen Profils vernachlässige, wanderten die Leute ab wie die Protestanten zu den Freikirchen. Dort sind die Regeln klarer, und die Toleranz ist entsprechend kleiner. Freikirchliche Vereinigungen zählen in der Schweiz eine Viertelmillion Mitglieder, und es werden ständig mehr. 

Infografik: Glauben oder nicht Glauben – die Schweizer Bevölkerung und ihr Verhältnis zu Gott

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Selbstbedienungsregale des Glaubens

Wie überall heisst das Schlagwort heute auch bei der Religion Individualisierung. Man schwimmt nicht mehr automatisch mit dem Strom, sondern überlegt sich, welche Religion einem passt. Religionsexperte Hugo Stamm nennt das «City-Religion». Damit meint er eine Art Selbstbedienungsregal des Glaubens: Man pflückt sich aus dem breiten Angebot, was gerade zu Lust, Laune und Befindlichkeit passt. «Man möchte einen Personal Trainer für die eigene Seele.»

Für wichtige Ereignisse wie Heirat, Taufe oder Beerdigung kann das sehr gut die christliche Kirche sein. Für andere Feiern lassen sich viele auch gern vom Glauben an Übersinnliches, an Engel oder Naturkräfte inspirieren.

Das zeigen die Zahlen des Bundesamts für Statistik: 37 Prozent der befragten Männer und 58 Prozent der Frauen glauben an übernatürliche Wesen, die über sie wachen und für die sie Kerzen anzünden oder meditieren. «Menschen brauchen Rituale, die Probleme symbolisch behandeln», sagt Religionsforscher Stolz. «Ob man in einer Krise betet oder rennen geht, macht keinen Unterschied: Die Aktion löst das Problem nicht, aber dank der symbolischen Handlung fühlt man sich besser.» 

«Wir wissen schon lange, dass es den Trend zur Individualisierung gibt. Die reformierte Kirche hat es verpasst, angemessen auf diesen Trend zu reagieren», bestätigt Thomas Gehrig, Geschäftsführer der Reformierten Medien. Er bleibt trotz den jüngsten Entwicklungen zuversichtlich. «Zwischen den Menschen ist viel Platz für Gott. Ich sehe das in Form der Menschlichkeit, die die Leute verbindet. Doch auch Menschlichkeit braucht Strukturen», so Gehrig.

Kaum jemand gehe einfach so hin und besuche Menschen im Altersheim. Gehrig zweifelt deshalb daran, dass es als Motivation reicht, einfach ein guter Mensch sein zu wollen. Zudem sei die Messgrösse von Aufwand und Ertrag heute allgegenwärtig. «Zu investieren, ohne zu wissen, was man dafür bekommt, entspricht nicht mehr unserem Zeitgeist.» Und trotz oder gerade wegen der Ökonomisierung des Glaubens findet er: 

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«Glauben ist nicht zeitgemäss, sondern zeitlos.»

Thomas Gehrig, Geschäftsführer der Reformierten Medien

Die Leute wollen unterhalten werden

Die reformierte Kirche schwankt zwischen Öffnung und Profilschärfung. Eigentlich biete sie jedem etwas, sagt Thomas Gehrig. Feuerritual in der Zürcher Predigerkirche, hier Jazzgottesdienst, dort traditionelle Sonntagspredigt. In Thun gibt es einen reformierten Pfarrer, der sich ausschliesslich der Spiritualität widmet.

Selbst mancher Katholik käme dank Bildern, Kerzen und Musik in der evangelischen Kirche auf seine Kosten. Die Frage ist: Reicht das dem Durchschnittsgläubigen? Sicher ist nur, dass die Leute mehr als früher unterhalten werden wollen. «Ich gehe nur in einen Gottesdienst, wenn er mich auch wirklich packt», so Gehrig. Das Religiotainment hält Einzug.

Allerdings nicht bei den Katholiken. «Die Kirche darf sich dem Zeitgeist nicht sang- und klanglos anpassen. Sie muss kritisch sein und aktuelle Entwicklungen hinterfragen», sagt Erwin Tanner, Generalsekretär der Bischofskonferenz.

Doch auch die katholische Kirche sorgt sich über die ständig sinkenden Mitgliederzahlen, trotz den Zuwanderern aus dem katholischen Süden. Das Problem sieht Tanner vor allem in unzureichender Transparenz und mangelnder Kommunikation: «Wir dürfen keine Popcorn-Politik mehr betreiben, bei der wir den Pfannendeckel so lange zuhalten, bis uns die Maiskörner irgendwann um die Ohren fliegen.»

Darum wolle man künftig offensiver kommunizieren und auch zu unangenehmen Themen Stellung beziehen. Ebenfalls eine jüngere Entwicklung: Die Bischofssynode wolle die Gläubigen stärker einbinden. «Die Leute sollen nicht von oben herab behandelt werden, sondern gemeinsam mit der Kirche einen Weg beschreiten.» Bei all diesen Reformationen sei es wichtig, zu verstehen, dass die kirchlichen Strukturen schwerfällig sind. «Wir leben nicht von heute auf morgen, wir brauchen Zeit», sagt Tanner.

Die Zahl der Freidenker wächst

«Ich möchte niemandem seinen Glauben austreiben. Die Gretchenfrage muss jeder für sich selber beantworten», sagt Andreas Kyriacou, Neuropsychologe, überzeugter Atheist und Präsident der wachsenden 2000-köpfigen Schweizer Freidenker-Vereinigung.

Und warum formieren sich ausgerechnet Freidenker, um sich gegen Andersdenkende zu wehren? Kyriacou weist den Vorwurf der Abgrenzung von sich: «Wir setzen uns für humanistische Werte ein. Und wir versuchen aufzuzeigen, dass ein nichtreligiöses Weltbild besser zu einer Gegenwart passt, die stärker von wissenschaftlichen Erkenntnissen und technischen Errungenschaften geprägt ist als von alten Geschichten.»

Die Freidenker fordern zudem die vollständige Trennung von Staat und Kirche. Für Kyriacou entspricht das Ausleben einer Religion dem «Angebot einer Freizeitbeschäftigung». Konkret: Es gehe ums Geld. Die Beiträge der Kirchensteuerzahler belaufen sich auf rund 1,3 Milliarden Franken pro Jahr.

Zusätzlich überweist der Staat den zwei Landeskirchen über 550 Millionen Franken im Jahr; fast die Hälfte davon hat er bei Unternehmen in Form von Kirchensteuern einkassiert. Dass Firmen «in fast allen Kantonen Kirchensteuer zahlen müssen, halten wir für ein seltsames Konstrukt», sagt Andreas Kyriacou.

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Den Einwand, die Kirchensteuer finanziere Soziales, lässt Kyriacou nur teilweise gelten. «Der grösste Teil des Geldes wird nicht für soziale Zwecke eingesetzt. Jede Non-Profit-Organisation würde bei der Zertifizierungsstelle Zewo die Anerkennung ihrer Gemeinnützigkeit verlieren, wenn sie so viel für die Verwaltung ausgäbe wie die Landeskirchen.»

Tatsächlich setzen die Ableger der Landeskirchen in den Kantonen Bern und St. Gallen gut einen Drittel der erhaltenen Kirchensteuern für die Administration ein und nicht für seelsorgerische oder karitative Zwecke.

Ein Hilfswerk, das von der Zewo zertifiziert ist, wendet dagegen im Schnitt nur 13 Prozent für die Administration auf und acht Prozent für die Beschaffung der Mittel. Die Kirchen investieren die meiste Zeit in die Pflege der kultischen Dienste. Je nach Kanton und Konfession bleibt so lediglich ein Viertel bis ein Drittel des Geldes für Soziales übrig. Bei Hilfswerken mit dem Zewo-Siegel sind es 79 Rappen von jedem Spendenfranken. 

Viel Geld versickert in der Verwaltung

Zusätzlich stossend findet Freidenker Kyriacou, dass das allermeiste Geld ohne Leistungsauftrag fliesst. «Ich finde es völlig in Ordnung, dass der Staat bestimmte Aufgaben an externe Partner vergibt, darunter auch an die Kirchen. Dann aber bitte mit einem konkreten Auftrag – wie bei allen anderen Partnern auch.»

Erwin Tanner, Generalsekretär der Schweizer Bischofskonferenz, widerspricht. Der Umfang der Unterstützung sei nicht von der Grösse einer Organisation abhängig, sondern von deren Einfluss auf die Gesellschaft. «Wir tun so viel Gutes. Wenn wir nicht wären, wäre die Gesellschaft viel ärmer. Die Kirche gibt dem Menschen etwas, was ihm der Staat nicht geben kann.»

Die Verknüpfung von öffentlichen Geldern mit konkreten Leistungsaufträgen sei wenig sinnvoll. Der Grad der Bürokratisierung steige damit sofort. Dass der Verwaltungsaufwand bereits heute relativ hoch ist, sieht indes auch Erwin Tanner als Problem: «Die Verwaltungskosten sollten tatsächlich reduziert werden. Daran müssen wir noch arbeiten.»

Werden die Weltreligionen eines Tages ausgedient haben und das Feld für kleine, individualisierte Gruppierungen räumen müssen? «Ich glaube nicht, dass wir in den nächsten 100 Jahren eine Welt ohne Religionen erleben werden», sagt Religionssoziologe Jörg Stolz. Im Gegenteil. Der Anteil religiöser Menschen weltweit wächst, gerade in armen Ländern, wo Religion einen hohen Stellenwert hat.

Die zerstörerische Kraft der Gier

In der Schweiz jedoch ist die Vormacht der Kirchen selbst in ihren ehemaligen Kernbereichen bedroht. Religionssoziologe Stolz sagt: «Man dachte bis vor ein paar Jahren, dass die Kirche in gewissen Bereichen wie Beerdigungen und Hochzeiten ihre Monopolstellung für immer behalten werde. Aber auch hier wächst die weltliche Konkurrenz. Andernorts hat sie schon die Überhand gewonnen. In Australien gibt es bereits mehr säkulare Ritualbegleiter als christliche.»

Das Christentum sei weitgehend überholt und passe schlecht zum modernen Weltbild, sagt Hugo Stamm. Ausserdem hätten sich christliche Moral und Ethik nicht wirklich durchgesetzt. «Die Entsolidarisierung der Gesellschaft und die egoistische Anspruchshaltung widersprechen der Idee der Nächstenliebe und der Barmherzigkeit. Die Gier der Manager verdeutlicht es: Ihr rücksichtsloser Kampf um Boni ist widersinnig, destruktiv und zutiefst unchristlich.»

Dabei wäre vielleicht doch alles ganz simpel. Thomas Gehrig von den Reformierten Medien sagt: «Natürlich kann man es sich einfach machen und sagen: ‹Ich bin ein guter Mensch, ich tue niemandem etwas zuleide, mir genügen die humanistischen Grundwerte vollauf.› Ich selber halte es lieber mit dem alten Pfadi-Gesetz. Ein Pfader achtet den Glauben anderer, aber er achtet auch deren Unglauben. Ich habe keinen Bekehrungsansatz. Ich muss nicht wissen, welche Religion jemand hat, solange ich mich wertgeschätzt fühle.»

Autor: Nicole Krättli und Susanne Loacker
Bild: Wikimedia (Montage: Beobachter)
Infografiken: Anne Seeger; Quellen: BFS, FAKIR – (Bem. d. Red.: Die Zahlen beziehen sich jeweils auf die Schweizer Bevölkerung.)