Aufgezeichnet von Thomas Schlittler:

Ich habe die Leitung der Schweizer Vertretung in Kabul am 1. Juli 2021 übernommen. Zu diesem Zeitpunkt rechnete niemand damit, dass die Taliban innert sechs Wochen nicht nur ganz Afghanistan, sondern auch die Hauptstadt einnehmen würden.

Am Nachmittag des 13. August, eines Freitags, informierte uns eine verlässliche Quelle vor Ort, dass es wohl nur noch Stunden dauern wird, bis die Taliban vor den Stadttoren von Kabul stehen. Zusammen mit Bern entschieden wir deshalb, dass meine zwei Schweizer Kollegen und ich uns am Sonntag in die deutsche Botschaft verschieben sollen. Wir hatten mit Deutschland bereits im Vorfeld eine Evakuierungsvereinbarung getroffen.

Teile des Archivs verbrannt

Wir haben unseren Compound, den Gebäudekomplex, in dem unsere Vertretung untergebracht war, nicht Hals über Kopf verlassen. Den ganzen Samstag verbrannten wir mit unseren afghanischen Kollegen Teile des Archivs in einer Mülltonne und schalteten den Server ab. So verhinderten wir, dass sensitive Daten über Mitarbeitende und Partnerorganisationen in falsche Hände geraten.

Am Sonntagmorgen um sechs Uhr erhielt ich die Nachricht, dass die Hochsicherheitszone in Kabul aufgelöst worden war. Soldaten und Polizisten seien nicht zum Dienst erschienen. Wir räumten die letzten Sachen, stellten Wasser und Strom ab und verliessen den Compound. Der Letzte kletterte über die Mauer, um das von innen verschlossene Gebäude zu verlassen.

Die afghanischen Kollegen gingen nach Hause zum Packen. Der Bund hatte entschieden, dass unsere 40 Mitarbeitenden und ihre Familien in der Schweiz Asyl erhalten, und wir gingen davon aus, dass wir am Dienstag alle zusammen in die Schweiz fliegen würden.

Meine beiden Schweizer Kollegen und ich fuhren mit zwei gepanzerten Fahrzeugen zur deutschen Botschaft. Normalerweise dauerte die Fahrt fünf Minuten. Jetzt brauchten wir eine Stunde, weil die Strassen verstopft waren. Die Stimmung war angespannt, man sah auf den Pick-ups sehr viele bewaffnete Männer.

Sie wollen weg: Afghanen klettern im August 2021 über die Mauer beim Internationalen Flughafen Kabul.

Sie wollen weg: Afghanen klettern im August 2021 über die Mauer beim Internationalen Flughafen Kabul.

Quelle: EPA

Als wir endlich auf der deutschen Botschaft ankamen, sagte man uns: «Wir fahren gleich weiter zum Nato-Compound. Ihr werdet noch heute Nacht evakuiert!» Diese Ankündigung war für mich ein Schock. Sie bedeutete, dass wir unsere afghanischen Arbeitskolleginnen und -kollegen zurücklassen mussten. Es war für mich der emotionalste Moment der ganzen Evakuierung.

Auf dem Nato-Gelände mussten wir das Gepäck reduzieren, auf acht Kilo pro Person. Ein Helikopter flog uns zum Militärflughafen von Kabul. Dort waren wir dann vor allem damit beschäftigt, die Ausreise unserer afghanischen Mitarbeitenden und ihrer Familien vorzubereiten. Stundenlang erstellten wir Namenslisten und waren in Kontakt mit Bern. Die Laissez-passer zur Ausreise bekamen unsere lokalen Mitarbeitenden von den Teams in Bern per Mail.

Gegen Mitternacht gingen wir an Bord eines amerikanischen Militärflugzeugs und wurden nach Doha ausgeflogen. Auf der Militärbasis in Doha angekommen, schrieb ich Freunden und Familie eine Whatsapp: «Bin in Sicherheit.» Am nächsten Tag ging es mit einem Linienflug nach Europa. Am Dienstag, 17. August, um 22 Uhr war ich zu Hause in Bern.

Im Rückblick bin ich unseren deutschen Kolleginnen und Kollegen sehr dankbar. Ohne sie wäre unsere Evakuierung nicht möglich gewesen. Ich bin auch meinem Team und der EDA-Zentrale in Bern sehr dankbar. Ohne sie wäre es nicht gelungen, die afghanischen Mitarbeitenden mit ihren Familien sicher in die Schweiz zu bringen.

Der Beobachter-Newsletter – wissen, was wichtig ist.

Das Neuste aus unserem Heft und hilfreiche Ratgeber-Artikel für den Alltag – die wichtigsten Beobachter-Inhalte aus Print und Digital.

Jeden Mittwoch und Sonntag in Ihrer Mailbox.

Jetzt gratis abonnieren