Meine Arbeit ist intensiv. Ich dirigiere rund 30 Stunden pro Woche. Insgesamt arbeite ich um die 60 Stunden. Das ist viel – doch was ich tue, bereichert mich. 

Seit September 2021 bin ich der 18. Nachfolger von Johann Sebastian Bach. Vor 300 Jahren kam der damals 38-Jährige Komponist nach Leipzig. Bis zu seinem Tod blieb er Thomaskantor und war für die Musik in vier Kirchen der Stadt verantwortlich. Seine Fussstapfen sind gross – obwohl er nur die dritte Wahl war.

Ich war die erste Wahl: Als diplomierter Kirchenmusiker, Organist, Pianist, Chor- und Orchesterleiter sowie als langjähriger Leiter der Solothurner Singknaben passte ich genau auf das Stellenprofil.

106 Jungen von 9 bis 18 Jahren

Als Thomaskantor leite ich den Thomanerchor künstlerisch: Ich entscheide, welche Musik wir spielen, studiere die Werke mit den Jungs ein und dirigiere bei den Aufführungen. Der Knabenchor wurde 1212 gegründet und umfasst heute 106 Jungen im Alter von 9 bis 18 Jahren. Wir proben jeden Tag. Am Freitag, Samstag und Sonntag singen wir vor Publikum.

Die Betreuung der Knaben ist heute pädagogisch anspruchsvoller als zu Bachs Zeiten. Neben mir arbeitet ein Stab von Pädagoginnen, Chorleitern, Internatsleitern, Musiklehrern und Stimmbildnerinnen mit den Jungen. Wenn die Buben entspannt und gleichzeitig konzentriert vor mir stehen, weiss ich, dass wir unseren Job richtig machen. Und das Publikum hört es, wenn unsere Verbindung stimmt.

«In den Konzerten kommen alle zusammen, und ich dirigiere dann Chor, Orchester und Solisten.»

Andreas Reize

Daneben arbeite ich auch eng mit dem Gewandhausorchester zusammen. Mit derzeit etwa 185 Musikerinnen und Musikern ist es das weltweit grösste Berufsorchester. Einige von ihnen spielen jede Woche mit dem Thomanerchor, die Zusammensetzung der Instrumente ist jedes Mal anders. Hinzu kommen Sängerinnen und Sänger für Solostellen. In den Konzerten kommen alle zusammen, und ich dirigiere dann Chor, Orchester und Solisten.

Ausserdem lehre ich Chorleitung an der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig. Zu guter Letzt plane ich das musikalische Jahr in der Thomaskirche. Ich bin froh, dass mich zwei Assistentinnen unterstützen! 

60 Kantaten – pro Jahr

Im Unterschied zu Bach komponiere ich nicht. Von ihm wurde wöchentlich neue Musik für den Gottesdienst erwartet – sogenannte Kantaten. Bach komponierte sie, studierte sie mit den Musikern ein und umrahmte damit die Gottesdienste musikalisch. Wenn man bedenkt, dass für jeden kirchlichen Anlass etwas Neues erwartet wurde – Musik wurde damals ja nur live gespielt –, reden wir von ungefähr 60 Kantaten pro Jahr. Die ersten drei Jahre schaffte er das, aus der Zeit danach sind weniger dieser Stücke überliefert. 

Besonders nah fühle ich mich Bach, wenn ich mich mit seiner Musik beschäftige. Am Karfreitag führten wir beispielsweise die «Johannes-Passion» auf – ein verrückt geniales Werk. Bachs Musik berührt Menschen weltweit – und begeistert auch solche, die sonst wenig mit dieser Art von Musik anfangen können.

Ich finde es faszinierend, wie leicht seine Musik bei den Zuhörenden ankommt. Sie zu spielen oder zu singen, fordert alles von den Musizierenden – und von mir als Dirigent. Wenn ich mir überlege, wie ich seine Musik neu interpretieren kann, würde ich ihn manchmal gern fragen, was er davon hält. 

«Ich erkläre den Knaben jeweils altersgerecht meine Ideen und die Bedeutung der Texte.»

Andreas Reize

Uns verbindet die Kompromisslosigkeit – Bach eher in Zusammenarbeit mit dem damaligen Stadtrat zu Fragen seiner Lehrtätigkeit, ich bei der Interpretation der Musik. Dafür studiere ich am Vormittag die Noten und überlege mir, wie ich die Musik aufführen will.

Am Nachmittag erkläre ich den Buben altersgerecht meine Ideen und die Bedeutung der Texte. Die Jungs müssen wissen, worüber sie singen. Ich versuche, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen.

Was Bach und mich am meisten unterscheidet: Ich gebe heute wöchentlich Interviews, Bach gab wahrscheinlich kein einziges. Und er war definitiv dicker. Während er komponiert hat, jogge ich oder spiele mit den Jungs Fussball. Ich vermeide jedoch, mich mit dieser überragenden Figur zu vergleichen – ich bin einfach einer seiner Nachfolger. 

Aufgezeichnet von Andrea Ruprecht