Aus dem Kirchgemeindesaal tönt es: «Ne zhurysia, slavna Ukraino, maiesh vilnyi rid.» Alte, Junge, Frauen, einige Kinder, wenige Männer singen. Sie alle hat es auf der Flucht nach Olten SO verschlagen. Das ukrainische Volkslied klingt kämpferisch. Es ist zum Song des Widerstands gegen die russische Invasion geworden. «Mach dir keine Sorgen, ruhmreiche Ukraine, deine Menschen sind frei.»

33 freie Menschen, die das Schicksal vereint. Es sind 33 von über 50'000, die aus der Ukraine in die Schweiz geflohen sind. Die meisten wollen nur eines: zurück nach Hause, so schnell wie möglich. Doch niemand weiss, wann das sein wird. Und so bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich auf ein temporäres Dasein zwischen hier und dort einzustellen.

Viele, so liest man es in den meisten Medien, seien gut ausgebildet, suchten Arbeit, wollten sich eine neue Existenz aufbauen. Viele aber zögern. Sie lassen ihre Kinder online aus der Ukraine unterrichten, statt sie in der Schweiz einzuschulen. Sie wollen hier keine Wurzeln schlagen. Sie führen ein Leben im Provisorium.

Doch geht das überhaupt? Und wie fühlt es sich an? Kann man Teil einer Gesellschaft werden, wenn nichts auf sicher ist, alles nur vorübergehend?

Der Englischlehrer, 61

Sergij Shyryayev ist aus Kiew nach Olten geflüchtet

Sergij Shyryayev ist mit 100 Dollar in der Tasche aus Kiew geflohen. 

Quelle: Marco Zanoni

Solche Fragen, das wird in Olten schnell klar, beschäftigen die wenigsten Geflüchteten. Sergij Shyryayev schiessen die Tränen in die Augen, als er gefragt wird, seit wann er in der Schweiz sei. Der 61-Jährige berichtet, wie er mit nur 100 Dollar in der Tasche in seinem Auto aus Kiew geflohen ist. Wie alle Männer über 60 durfte er das Land verlassen.

Bis an die polnische Grenze nahm er eine Bekannte und ihre beiden Kinder mit. Er selber fuhr weiter nach Deutschland. Doch überall habe man ihn weggeschickt. Es gebe nur Platz für Frauen und Kinder, er solle weiterfahren, habe es geheissen. Zuerst in Dresden, später in Leipzig, dann an jedem anderen Ort, wo er bleiben wollte.

Shyryayev arbeitete viele Jahre als Chauffeur, später als Schreiner, zuletzt als Englischlehrer. Er lebte in Argentinien und Brasilien und ist sich sicher: Auch in der Schweiz wird er es irgendwie schaffen. Doch dass er auf seiner Flucht nirgends willkommen war, das steckt er nicht so einfach weg.

Bei Kaffee und Guetsli gibt es im Pfarrsaal der katholischen Kirche jetzt Informationen über Angebote des Roten Kreuzes, von Gemeinde und Kanton und zum Schutzstatus S. Das Treffen für ukrainische Flüchtlinge findet jede Woche statt, organisiert von einer Gruppe Freiwilliger. Heute gibt es einen Vortrag über den Zugang zu Uni und Fachhochschule. Und Informationen, wie man günstig ins Museum kommt oder ins Schwimmbad.

Der Geschäftsmann, 37

Slava Banikov hört geduldig zu. «Ich bin sehr dankbar für alles, was hier für uns getan wird. Aber momentan fällt es mir schwer, mich auf solche Dinge einzulassen», sagt der 37-Jährige. Bis zum 24. Februar war er Unternehmer im nordostukrainischen Sumy. Ihm gehörten zwei Kleiderläden, er war ein Chef mit vollem Terminkalender. Dann überfielen die Russen seine Stadt. Da er zu dieser Zeit per Zufall in Polen weilte, konnte er fliehen, obwohl er ein Mann unter 60 ist. Aber er leidet auch an Schuppenflechte und wäre nicht kampftauglich. Nun sitzt er mit seiner Frau Angela, seinem Sohn Daniel und seiner Mutter Raissa an einem Tisch im Oltener Pfarrsaal. Er sagt: «Ich fühle mich wie ein Fisch, den man aus dem Wasser gezogen hat.»

Zukunftspläne? «Mein Herz ist leer.» Arbeit? Darüber habe er noch gar nicht nachdenken können. Seine Gedanken kreisen um die Liebsten, die er zurücklassen musste, und darum, was er alles verloren hat. Sein Haus, seine Autos, seine ganze Existenz.

In Olten gibt es nach dem Informationsteil eine Kleiderbörse. Es wurden Spenden gesammelt, jetzt suchen sich die Ukrainerinnen Blusen, Hosen und T-Shirts aus, schauen, was passt. Auch Kleiderladenbesitzer Slava Banikov und seine Familie decken sich ein. Er sei dankbar, aber er wünsche sich jeden Tag, dass er aufwache und feststelle: Es war alles nur ein böser Traum.

Der Korrektor, 33

Ukrainische Flüchtlinge erkennt man sofort. Man sieht die Trauer in ihren Augen, den Verlust und die Angst. Auch bei Vladimir Sachko. Der 33-Jährige stammt aus Saporischja, wo das grösste AKW Europas steht, das russische Truppen zwischenzeitlich eingenommen hatten. Er ist zu seiner Mutter Olena Lüthy geflüchtet. Sie ist hier verheiratet und lebt seit zwölf Jahren in der Schweiz. Der Reporterin trägt Vladimir Sachko ein selbst geschriebenes Gedicht vor. Seine Mutter übersetzt: «Dunkle Wolken über der Ukraine, doch wir werden nicht vergessen. Dunkler Rauch steigt auf, doch wir werden nicht vergessen.»

In Saporischja verbrachte Sachko seine Tage mit Lesen und Schreiben – er war Korrektor. Und hier? Er lernt Deutsch. Er will seine Lieblingsbücher – Cervantes’ «Don Quijote» und Bulgakows «Der Meister und Margarita» – auf Deutsch lesen. Noch lieber möchte er sein altes Leben zurück.

In Gedanken sind die meisten Geflüchteten in der Ukraine. «Sie müssen erst einmal ankommen und das Erlebte verarbeiten», sagt Ursula Luder vom Schweizerischen Roten Kreuz. Es sei zu früh, Integration zu fordern. «Trotzdem ist es wichtig, dass von Anfang an über Angebote informiert wird und sie zugänglich sind.» Die Fragen, die bei Beratungsangeboten eingehen, drehten sich zurzeit aber primär um Finanzielles und Organisatorisches. Um das neue Leben im Hier und Jetzt. Was morgen ist, wird sich zeigen. An übermorgen denkt niemand.

In Olten bedanken sie sich überschwänglich, dass man sie aufnahm, dass man sich um sie sorge und für das Interesse an ihren Geschichten.

Die Schülerin, 15

Geschichten wie die von Anna Jermolova. Der Vater hatte die Familie verlassen, die Mutter ist vor zwei Jahren gestorben. Sie lebt bei ihrer Grossmutter Ludmilla. Nun sitzen sie hier in Olten. Sie habe keine Zukunftspläne, sagt der Teenager. Sie beende gerade ihr letztes Schuljahr per Homeschooling. In der Ukraine liessen die beiden ein grosses Haus zurück, mit vielen Tieren. Was sie bei der Rückkehr zu Hause erwartet? «Meine Mutter», sagt sie. Und meint das Grab.

«A my nashu slavnu Ukrainu, hei-hei, rozveselymo!», heisst es an den Strophenenden des ukrainischen Volkslieds. «Und wir sollen unsere ruhmreiche Ukraine, hey-hey, aufmuntern!»

Anna und ihre Grossmutter Ludmilla Jermolova mussten Haus und Tiere zurücklassen

Anna Jermolova und ihre Grossmutter Ludmilla mussten Haus und Tiere zurücklassen.

Quelle: Marco Zanoni

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