Andi Rüedi ruft: «Fleur, 65,5 Kilo.» Das Gewicht jedes Alpakas wird fein säuberlich in eine Liste eingetragen – vor und nach dem Scheren. Nur so lässt sich später genau bestimmen, wie viel Wolle von welchem Tier stammt.

Von der Waage führt der 32-jährige Landwirt die Stute durch den Stall zum Schertisch. Dort legt er ihr einen Gurt um den Hals und kippt sie mitsamt Tisch in Liegeposition. Ein Kraftakt. Seine Frau, Sarah Rüedi, 28, fixiert die Vorderbeine, er die Hinterbeine. Das sei wichtig, «sonst könnte sich das Tier verletzen», sagt er. Dann surrt die Schermaschine los.

Streifen für Streifen schält Andi Rüedi das Alpaka aus dem zehn Zentimeter dicken, hellbraunen Vlies. Ein Handwerk, das in der Schweiz nur gerade eine Handvoll Leute beherrschen. «Die Wolle ist so dicht, dass man fast blind schneidet. Man muss die Anatomie der Tiere genau kennen.» Das brauche Routine. Davon hat er genug. Allein diesen Frühling schert er rund 2300 Alpakas. Die eigenen Tiere – und andere, auf Bauernhöfen in ganz Europa.

Die neue Frisur

Die meisten Alpakas verhalten sich ruhig, nur Fleur passt es nicht. Die Stute protestiert, spuckend und mit schrillen Lauten. Sie leide aber nicht, sagt der Landwirt. «Es ist etwa so, wie wenn wir zum Zahnarzt müssen – unangenehm, aber notwendig.» Notwendig? Ohne Schur hätte die Stute viel zu heiss, erklärt Andi Rüedi. Schon jetzt im Frühling könne es kritisch werden. Zudem würde das Fell verfilzen, und Parasiten könnten sich einnisten. Durch jahrtausendelange Zucht haben die Alpakas ihren natürlichen Fellwechsel verloren. Indigene Völker in Südamerika domestizierten die Tiere vor allem wegen der Wolle – dem «Vlies der Götter», wie sie sie nannten.

Alpaka Fleur vor und nach der Schur

Alpaka Fleur: Vor und nach der Schur

Der Hals wirkt länger, der frisch frisierte Kopf grösser: Nach der Schur sieht Alpaka Fleur um Monate jünger aus.

Quelle: Roger Hofstetter

Während ihr Mann schert, prüft Sarah Rüedi die Zähne des Tiers, schneidet die Nägel und kümmert sich um das Kopfhaar. «Jedes Alpaka bekommt eine Frisur», sagt sie. Mit einer grossen Schere schnippelt sie das Fell auf Fleurs Kopf zu einem runden Pompon. Als ihr Mann beim Hals ankommt, löst sie den Gurt und hält den Kopf seitlich fest, bis auch die Backe frisiert ist. Dann drehen sie das Tier auf die andere Seite, und das Prozedere beginnt von neuem. Die beiden sprechen kaum, jeder Handgriff sitzt. Nach acht Minuten hat die Stute fast drei Kilo Wolle weniger auf den Rippen.

Liebe auf den ersten Klick

Seit vier Jahren betreibt das Ehepaar den Alpakahof in Ortschwaben BE. Im letzten Herbst kam ein zweiter Hof in Zürich dazu. Auf ihren Weiden grasen 108 Alpakas. Fast alle gehören zu den Huacayas – in Europa ist sie die bekanntere der beiden Alpakarassen. Das Vlies der Huacayas ist stark gekräuselt und steht senkrecht ab. Anders bei den Suris: Ihr Fell hängt in langen, glänzenden Wellen am Körper herunter.

Neben Alpakas beheimatet der Betrieb auch Pferde, Kühe und Schweine. Das Paar führt den Hof zusammen mit Andi Rüedis Eltern. Sie schenkten ihrem Sohn die ersten drei Alpakas. 2004 durfte der damals 14-Jährige ein Tier aussuchen, um das er sich fortan allein kümmern sollte. «Meine Eltern dachten, ich würde ein Pony oder einen Esel wählen.» Im Magazin «Tierwelt» hatte er aber erstmals von Alpakas gelesen. Er googelte die Tiere und verliebte sich sofort in die grossen schwarzen Augen.

Und so wünschte er sich Alpakas. «Wenn ich mit ihnen spazieren ging, waren die Leute sehr überrascht. Viele hatten noch nie ein Alpaka gesehen.» Knapp 20 Jahre später ist das anders. Die flauschigen Exoten haben längst auch Schweizer Bauernhöfe erobert. Fast 4000 von ihnen leben hierzulande. Jahr für Jahr werden es mehr. Angebote mit den Tieren boomen. Spaziergänge, Events, ja sogar Therapien und Yogastunden mit Alpakas kann man heute buchen. Für einige Bauern sind das aber nur Nebenschauplätze. Sie verdienen ihr Geld vor allem mit Wolle und Fleisch.

Familie Rüedi produziert kein Alpakafleisch. Zwar sei es zart und lasse sich gut verkaufen. Aber die Tiere metzgen, nein, das bringe er nicht übers Herz, sagt der Bauer, der jedes seiner über 100 Alpakas mit Namen kennt. Die Wolle hingegen nutzt er, scheren müsse er die Tiere ohnehin jedes Jahr.

Andi Rüedi schert Magus

Andi Rüedi schert Magus: Damit sich der Hengst nicht verletzen kann, wird er fixiert.

Quelle: Roger Hofstetter

226,6 Kilo kamen dieses Jahr zusammen. Die Faser ist sehr beliebt – entsprechend stolz ist der Preis: 500 Franken verdienen Andi und Sarah Rüedi pro Kilo. Doch nicht alles Vlies ist gleich viel wert. «Das beste kommt vom Rücken.» Mittlerweile liegt das nächste Tier auf dem Schertisch – Magus, ein junger brauner Hengst. Andi Rüedi streicht durch das Fell: «Alpakawolle ist viel feiner als die von Schafen.»

Am Anfang waren die Alpakadecken 

Aus den besten Fasern lässt das Paar Mützen, Stirnbänder und Schals fertigen. Gefärbt wird die Wolle nicht. «Alpakas haben von Natur aus eine unglaubliche Farbpalette», sagt Sarah Rüedi. Von grau gefleckten über braunschwarze bis hin zu schneeweissen Tieren gibt es in ihrem Stall viele Variationen. Mittelgute Vliesstücke – zum Beispiel vom Hals, vom Bauch und von den Beinen – werden zu Socken oder Duvets verarbeitet. Mit Letzteren habe alles begonnen, erzählt Andi Rüedi. Erst habe er nur für Freunde und die Familie Duvets hergestellt. «Bald hatten aber ziemlich alle in meinem Umfeld eine Alpakadecke.» Also begann er, sie zu verkaufen, erst online und an Märkten, später im eigenen Hofladen.

Allein von der Wolle kann die Familie aber nicht leben. «Letzten Endes ist es ein Gesamtpaket.» Ein Paket, zu dem neben Alpaka-Trekkings vor allem die Zucht gehört. 28 Jungtiere werden dieses Jahr auf dem Hof erwartet. Nur die besten bleiben dann aber auch da. «Der Körperbau muss stimmen. Der Rücken darf nicht zu lang sein, man will keine X-Beine und keine bananenförmigen Ohren.» Beim Fell achte er in erster Linie auf die Feinheit. Je feiner das Vlies, desto weniger kratzt später die Wolle auf der Haut.

Zweifach gekrönter Sir

Zu einer guten Zucht gehört es auch, neue Hengste zuzukaufen. Dafür ist das Berner Paar schon um die halbe Welt gereist, zuletzt in die USA. Palladium, der Vater des frisch geschorenen Magus, stammte gar aus Australien. «Er war der Ferrari in unserem Stall», sagt Andi Rüedi. Bald werde sich zeigen, ob Magus die guten Gene geerbt habe. Er sei noch jung, Fell und Postur seien aber vielversprechend.

Alpakas

Keines wie das andere: Auf dem Alpakahof Bern leben Tiere mit unterschiedlichsten Fellfarben.

Quelle: Roger Hofstetter

Einige seiner schönsten Tiere hätten gar schon Preise gewonnen, erzählt der Alpakabauer stolz. Medaillen und Pokale an den Stallwänden zeugen davon. Gleich zwei Preise errang Sir Brighton. Der Hengst sei zur Welt gekommen, als seine Frau für einen Sprachaufenthalt in England gewesen sei, in Brighton, um genau zu sein. «Schon zwei Mal wurde er zum schönsten Hengst der Schweiz gekürt.» Vor wenigen Wochen habe nun auch ein Jungtier von Sir Brighton erste Preise abgeräumt.

Alpakas, die es nicht in die Zucht schaffen, verkauft Andi Rüedi. Die Nachfrage nach Wallachen – kastrierten männlichen Alpakas – sei gross. 1'500 Franken bekommt er für ein Tier. Zuchtstuten gibt er hingegen nur ungern ab, obwohl sich mit ihnen deutlich mehr verdienen lässt. «Stuten gibt es bei uns ab 3'000 Franken.» Gegen oben sei das Feld aber wie bei Pferden oder Kühen offen. Ein Top-Tier könne locker um die 10'000 Franken bringen.

Allein ums Geld geht es auf dem Berner Alpakahof aber nicht. «Für uns gehören die Alpakas zur Familie.» Und wie es in Familien so üblich sei, habe jedes Mitglied seinen ganz eigenen Kopf. Sebastian, eines von Andi Rüedis liebsten Alpakas, möge lustigerweise nur männliche Besucher. «Bei ihm muss ich das Tor auch immer doppelt abriegeln, sonst büxt er aus.» Auch Sarah Rüedi hat ihre Lieblinge. Einer davon ist die zutrauliche Martita. «Jeden Morgen, wenn ich den Stall betrete, kommt sie sofort auf mich zu und begrüsst mich liebevoll.»

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Deborah Bischof, Redaktorin
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