«Mein Vater hat nicht gerade Luftsprünge gemacht»
Nasir Jamei ist Muslim. Und Hebamme. Seine Familie findet das einen seltsamen Beruf für einen Mann – und auch viele Schwangere erschrecken erst einmal.
Veröffentlicht am 13. September 2010 - 08:36 Uhr
Die meisten Paare sind verwirrt, wenn sie mich sehen. Das ist verständlich. Auf Französisch heisst Hebamme «sage-femme». Doch steht da plötzlich ein Mann und keine «femme» vor ihnen, gibt es erst mal einige Fragen. Mir macht es nichts aus, diese immer und immer wieder zu beantworten.
Manche finden es merkwürdig, dass ich einer Frau Tipps zur Schwangerschaft gebe. Oder dass ich bei der Entbindung helfe oder ihr zeige, wie sie das Baby stillen muss. Doch all dieses Wissen kann man sich aneignen. All diese Dinge habe ich während vier Jahren an der Fachhochschule gelernt. Nach einem kurzen Gespräch merken dann auch die meisten Paare, dass es keine Rolle spielt, ob ein Mann oder eine Frau diesen Beruf ausübt.
Dennoch gab es bisher sechs, sieben Frauen, denen beim Gedanken an eine männliche Hebamme unwohl war. Sie alle waren Musliminnen. Doch da ich selbst Muslim bin, kann ich das nachvollziehen.
Auch meine Familie, vor allem mein Vater, hat nicht gerade Luftsprünge gemacht, als ich meinen Berufswunsch bekanntgab. Im Iran, wo ich herkomme, ist Hebamme kein prestigeträchtiger Beruf. Doch genau das war es, was mein Vater für mich wollte. Da hätte der Abschluss meines Chemiestudiums an der ETH Lausanne natürlich gepasst. Doch es fühlte sich einfach nicht richtig an. Heute freue ich mich jeden Tag auf meine Arbeit im Kantonsspital Genf.
Es ist dieser einzigartige Augenblick: In der einen Sekunde ist das Paar noch zu zweit, und schon in der nächsten ist daraus eine kleine Familie geworden. Es ist einer der intimsten und emotionalsten Momente überhaupt, und ich kann ihn mit so vielen Menschen teilen. Ich darf dabei sein, wenn ein Paar sein Kind zum ersten Mal sieht, es umarmt.
Keine Geburt ist wie die andere – denn keine Frau ist wie die andere. Das ist es, was den Job so abwechslungsreich macht. Während einige Schwangere intensive medizinische Betreuung benötigen, reicht es anderen bereits, wenn ich sie beruhige und sage: «Keine Sorge, niemand weiss, warum das Baby schreit. Du bist nicht allein. Es geht dir wie allen.»
Meine Leidenschaft für diesen Beruf war es denn wohl auch, die meine Familie letztlich überzeugte. Ich wusste genau,was ich wollte, und habe meinen Willen durchgesetzt – trotz allen Zweifeln und Warnungen. Bis heute habe ich es nie bereut, dass ich diesen Weg gegangen bin.
Entstanden ist das Ganze allerdings eher zufällig. Als ich einen Freund zur Berufsberatung begleitete, blätterte ich in einer Infobroschüre über die Hebammen ausbildung. Zum ersten Mal sah ich, dass diese auch für Männer angeboten wird.Ich war ziemlich verwirrt und fragte zur Sicherheit bei einer Berufsberaterin nach, ob das auch wirklich so sei. Ab diesem Moment war klar, was ich wollte.
Ganz fremd war mir der Beruf ohnehin nicht. Meine Mutter war Hebamme im Iran. Als ich Kind war, erzählte sie mir immer wieder von ihrer Arbeit. Ich erinnere mich, dass ich jeweils total fasziniert zugehört habe. Manchmal frage ich mich, was meine Mutter wohl sagen würde, wenn sie wüsste, dass ich in ihre Fussstapfen getreten bin. Wahrscheinlich würde sie sich freuen. Wissen werde ich das nie. Als ich 14 war, sind meine Mutter und meine drei Geschwister umgekommen. Sie sassen an Bord einer Passagiermaschine der Iran Air, die vom US-Kriegsschiff «Vincennes» über dem Persischen Golf abgeschossen wurde. Alle 290 Passagiere kamen ums Leben. Die Umstände sind bis heute nicht restlos geklärt. Mein Vater schickte mich damals zu meiner Tante nach Genf. Weit weg vom Iran. Weit weg vom Krieg.
Nun lebe ich seit zwei Jahrzehnten in der Schweiz und fühle mich eigentlich sehr wohl hier. Doch manchmal vermisse ich den Iran. Die Menschen dort sind viel offener, direkter, sie gehen aufeinander zu, kommen schneller miteinander ins Gespräch. Das ist in der Schweiz anders – aber nicht unbedingt schlechter. Auch ich brauche meine Privatsphäre. Ich fühle mich zum Beispiel nicht wohl, wenn während meiner Ferien im Iran jeweils rund um die Uhr Leute um mich herum sind. Es kommt mir vor, als gehörte ich nicht richtig hierher, aber auch nicht mehr richtig dorthin.
Schon drei Jahre sind vergangen, seit ich das letzte Mal im Iran war. Ich hatte echt viel zu tun. Doch sobald ich wieder einmal drei, vier Wochen Ferien habe, gehe ich heim. Das habe ich mir vorgenommen. Ich möchte auch wieder anfangen zu tanzen. Vor meiner Ausbildung zum Geburtshelfer habe ich zwölf Jahre lang intensiv getanzt – vor allem Ballett. Vielleicht kann ich auch irgendwann für das Rote Kreuz irgendwo auf der Welt Menschen helfen und so meine Leidenschaft für das Reisen mit meinem Beruf verbinden.
Ich habe viele Pläne. Dennoch mag ich es nicht, langfristige Ziele zu setzen. Meine Vergangenheit hat mich gelehrt, dass sich das Leben manchmal abrupt verändern kann und es deshalb nichts bringt, zu weit vorauszuplanen. Darum versuche ich, den Moment zu geniessen und alle Energie auf das Hier und Jetzt zu verwenden.