Das Urteil hätte kaum für Aufsehen gesorgt. Ein 31-jähriger Portugiese vergewaltigt nach dem Ausgang eine 33-jährige Frau – elf Minuten lang, vor ihrer Haustür. Dafür bleibt er drei Jahre im Gefängnis. Danach soll er für sechs Jahre des Landes verwiesen werden. Ein klarer Fall mit einer Strafe, die sich im Rahmen der üblichen Praxis bewegt.

Selbstverständlich ist das nicht. Die Anzeigen gegen Vergewaltiger haben in den letzten fünf Jahren um einen Drittel zugenommen, auf 713 Fälle im Jahr 2020. Bestraft wurden 2020 aber nur 89 Täter – meist wegen Beweisproblemen.

Es war nicht die Strafe, sondern ein Satz im mündlich eröffneten Urteil, der für Empörung sorgte. Das Opfer habe in der Tatnacht «mit dem Feuer» gespielt, sagte die vorsitzende Richterin. Welches Feuer, welches Spiel? Von «Signalen» sprach die Richterin, die das Opfer ausgesandt habe. Derart provozierende Signale, dass sie mit ein Grund dafür sein sollen, dass die erstinstanzliche Strafe von viereinviertel Jahren reduziert wurde.

Irritation und Protest

Das Opfer hatte vor der Tat offenbar Sex mit einem anderen Mann, auf der Toilette eines Clubs. Warum das für die spätere Vergewaltigung der betrunkenen Frau von Bedeutung sein soll, blieb in der mündlichen Ausführung unklar.

Klar dagegen ist: Die Signale, die die Richterin an die Öffentlichkeit sandte, sorgten für Unverständnis und Protest. Wird hier das Opfer für die Vergewaltigung mitverantwortlich gemacht? Das irritierte auch Juristen und Politikerinnen. Am 8. August demonstrierten mehrere Hundert Personen gegen das Urteil. Auch Rücktrittsforderungen an die Richterin wurden laut.

«Ich vertrete selber Sexualstraftäter. Aber ich habe noch nie eine Urteilsbegründung gesehen, in der ein geringeres Strafmass durch das Verhalten der Frau begründet wurde», sagt die Zürcher Strafverteidigerin Tanja Knodel. Sie vermutet hinter der fragwürdigen Äusserung vor allem eine verunglückte Kommunikation. Klarheit dürfte das schriftliche Urteil schaffen.

«Stereotypen und Mythen»

Genügt das also? Nein, findet die Organisation Brava, vormals Terre des Femmes. «Was wir dringend brauchen, ist ein Monitoring zur Umsetzung des Sexualstrafrechts», sagt Brava-Sprecherin Simone Eggler. Nur über eine Analyse der Urteile lasse sich herausfinden, wie das geltende Gesetz umgesetzt werde «und wie Stereotypen und Mythen von Richterinnen und Richtern bezüglich Gewalt, Geschlecht und Sexualität in Urteile einfliessen». Ein solches Monitoring könnte auch erhellen, ob eine Einschätzung des Opferverhaltens tatsächlich kaum Einfluss auf das Strafmass hat.

Unbestritten ist, dass Richter im Strafrecht das Verhalten eines Opfers mitberücksichtigen müssen. Das verlangt das Gesetz. «Wird der Täter durch das Verhalten der dann verletzten Person ernsthaft in Versuchung geführt, so mindert dies sein Verschulden», heisst es im Artikel 48 des Strafgesetzbuchs.

Ausserhalb des Sexualstrafrechts ist das gut vorstellbar, zum Beispiel bei einer Körperverletzung. Wenn das Opfer den Täter mit Sprüchen ständig provoziert, ihn explizit dazu auffordert, doch zuzuschlagen, weil er sich ja sowieso nicht traue, ein Weichei sei. Dann passiert es.

«Eine Frau kann nachts um vier betrunken im Minirock durch die Stadt gehen. Das ist strafrechtlich kein provokatives Verhalten.»

Tom Frischknecht, Strafrechtsdozent

Im Sexualstrafrecht kann sich der St. Galler Kreisrichter und Strafrechtsdozent Tom Frischknecht dagegen «kein überzeugendes Beispiel für eine ähnlich ‹ernsthafte Versuchung› vorstellen». Eine Frau könne nachts um vier betrunken im Minirock durch die Stadt gehen. «Das ist strafrechtlich kein provokatives Verhalten», sagt er. Selbst wenn ein Partner in den Geschlechtsverkehr einwillige, sich auf der Bettkante dann aber anders entscheide, sei das kein Grund, die Strafe für eine folgende Vergewaltigung zu mildern.

Auch Verteidigerin Tanja Knodel sieht im Sexualstrafrecht keine Tendenz, «dass der Frau wieder vermehrt eine Mitschuld zugesprochen wird, wie das früher leider oft der Fall war».

Zum Basler Urteil und den Protesten will sich Richter Frischknecht mangels Kenntnis der Akten nicht äussern. «Grundsätzlich soll die Justiz aber kritisiert werden, auch um ein Nachdenken über die Rechtsprechung in Gang zu bringen.» Nicht gerechtfertigt seien dagegen Angriffe auf einzelne Personen einer Kollegialbehörde. «Wir wissen ja nicht, welche Meinung eine Person bei der geheimen Urteilsberatung vertreten hat. Es kann sein, dass die vorsitzende Richterin dabei unterlegen ist.» Dennoch ist es an ihr, die Mehrheitsmeinung des Gerichts in der mündlichen Begründung des Urteils wiederzugeben.

Opfer leiden schwer

Das Basler Appellationsgericht versuchte die Wogen per Medienmitteilung zu glätten. «Wenn geprüft wird, wie der Beschuldigte die Situation interpretiert hat, geht es lediglich darum, das Verschulden des Täters zu bemessen, und nicht darum, das Opfer zu disqualifizieren», schrieb der Gerichtspräsident. Doch genau diesen Effekt können Äusserungen zu einem provozierenden Opferverhalten haben.

Dabei belasten gerade Vergewaltigungen die Opfer schon massiv. «Viele tragen nicht nur wegen der Tat selbst eine schwere Last. Sie hinterfragen ihr eigenes Verhalten», mahnt Richter Frischknecht. Warum habe ich mich auf ihn eingelassen? Weshalb habe ich mich an diesem Abend betrunken? Solche Fragen können quälen.

Unbestritten ist für Frischknecht aber: «Ein betrunkenes Vergewaltigungsopfer ist gleich schützenswert wie eine nüchterne Person. Wenn man einem Opfer, etwa bei der Befragung, wegen Alkoholkonsums einen Vorwurf macht, gibt man ihm eine Mitverantwortung an der Tat und macht es vielleicht ein zweites Mal zum Opfer.»

Das Basler Gericht unterstrich in seiner Medienmitteilung die «Wahrnehmung des Täters». Was aber bedeutet das, wenn der Täter aufgrund sozialer Prägung, seines kulturellen Hintergrunds oder mangelhafter Integration Situationen und Signale sehr eigen interpretiert? Kann etwa eine Strafe geringer ausfallen, weil ein Macho das aufreizende Verhalten seines Opfers als Einladung zum Sex interpretiert?

Kaum «Unwissen»

«Entscheidend ist, ob ein Täter in der Lage war, die Tat nicht zu begehen», sagt Tom Frischknecht, der zur Frage des «kulturellen Rabatts» eine Dissertation verfasst hat. «Er muss wissen können, dass etwas verboten ist. Und bei einer Vergewaltigung kann kaum jemand ein kulturell bedingtes Unwissen geltend machen.» Selbst wenn jemand erst kurze Zeit in der Schweiz lebe, werde erwartet, dass er wesentliche Gesetze und Verhaltensregeln kenne.

In Deutschland hat die Kriminologin Julia Kasselt die Rabattfrage für ein anderes Delikt untersucht, den sogenannten Ehrenmord. Auch hier sind die meisten Opfer Frauen. Anders als bei klassischen Beziehungstaten steht nicht die Kränkung des Täters im Vordergrund. Der Mord soll «die Ehre» einer ganzen Familie wiederherstellen.

Das Ergebnis nach der Auswertung von 63 Ehrenmorden und 91 klassischen Beziehungsdelikten: Ehrenmörder erhalten im Schnitt nicht wie erwartet geringere, sondern höhere Strafen. Der kulturelle Rabatt entpuppte sich zumindest für dieses Delikt als Mythos.

Tom Frischknecht erstaunt das nicht. «Um eine mildere Strafe zu erhalten, müsste ein Täter von Dritten extrem unter Druck gesetzt worden sein. Zum Beispiel, indem er selbst mit dem Tod bedroht wurde, falls er die Tat nicht begeht.»

Er sieht ein weiteres Argument für härtere Strafen: die Verhinderung von Taten. «Würden für Ehrenmorde regelmässig und leichterhand geringe Strafen ausgesprochen, käme das einer Verharmlosung und in gewisser Weise einer Legitimierung solcher Taten gleich. Die Schwelle, sie zu begehen, könnte sinken. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Gesellschaft dies will.»

Das trifft wohl auch auf Vergewaltigungen zu. Welchen Einfluss «die Wahrnehmung der Täter» auf die zahlreichen Verfahren mit wenigen Verurteilungen hat, bleibt ohne wissenschaftliche Analyse aber ein Rätsel.

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