Der Pöstler klingelt, übergibt einen eingeschriebenen Brief oder hinterlegt einen Abholschein. Im Couvert steckt ein Strafbefehl von der Staatsanwaltschaft, er hält die Höhe der verhängten Strafe fest. Solche Schreiben werden in der Schweiz rund 330-mal pro Tag zugestellt.

Die meisten Beschuldigten akzeptieren die Strafe. Im Kanton Zug erhoben gemäss Rechenschaftsbericht des Obergerichts im letzten Jahr gerade mal vier von hundert Beschuldigten Einsprache, in Bern waren es gemäss Recherchen des Beobachters fünf von hundert, in Baselland drei von hundert.

Die Quote variiert innerhalb der Kantone allerdings beträchtlich, zeigt eine Nationalfonds-Studie des Zürcher Strafrechtsprofessors Marc Thommen. Sie geht davon aus, dass im Durchschnitt jeder zehnte Beschuldigte Einsprache erhebt.

Die Einsprachequote zeuge von einer «breiten Akzeptanz» der Strafbefehle, heisst es im Rechenschaftsbericht des Zuger Obergerichts. Auch die Zürcher Staatsanwaltschaft ist zufrieden. Der Strafbefehl habe sich «weitestgehend bewährt» und sei «unter den heutigen Bedingungen der Justiz nicht mehr weg-zudenken», steht in ihrem Jahresbericht. Die positive Bilanz darf als repräsentativ gelten, das Strafbefehlsverfahren steht bei allen Staatsanwaltschaften hoch im Kurs.

Zu knappe Einsprachefrist

Das ist erstaunlich, denn an den Rechtsfakultäten der Universitäten und bei Anwälten klingt es ganz anders. Bemängelt werden gleich mehrere Punkte, angefangen bei der Einsprachefrist. Sie beträgt bloss zehn Tage und sei viel zu kurz. «Eine Verlängerung der Frist auf 30 Tage gäbe der betroffenen Person die Möglichkeit, sich über die Chancen und Risiken einer Einsprache sowie über die Folgen der Akzeptanz eines Strafbefehls zu informieren», sagt die Solothurner Rechtsanwältin Eveline Roos. Niklaus Ruckstuhl, beim Schweizerischen Anwaltsverband (SAV) zuständig für Strafrecht, sagt: «Die knappe Einsprachefrist kann fast als Rechtsverweigerung qualifiziert werden.»

Kritisiert wird auch die sogenannte Zustellfiktion. Ein Strafbefehl gilt nach sieben Tagen als zugestellt, wenn er eingeschrieben versandt wurde. Ob die beschuldigte Person die Sendung entgegengenommen hat, spielt keine Rolle.

Für juristische Laien noch skurriler ist die Dossierfiktion: Wenn sich die Adresse des Beschuldigten nicht eruieren lässt, wird der Strafbefehl in einem Dossier abgelegt und gilt als zugestellt. In beiden Fällen erfahren die Beschuldigten nicht, dass sie verurteilt wurden. «Diese Zustellfiktionen sind sogar bei unbedingten Freiheitsstrafen möglich. Das widerspricht dem Konzept des Strafbefehlsverfahrens, das seine Legitimation massgeblich von der Zustimmung der beschuldigten Person bezieht», sagt der Basler Strafrechtsprofessor Christopher Geth.

Der Beobachter kontrolliert

92 Prozent aller Verbrechen und Vergehen werden mit Strafbefehlen abgeurteilt. Ohne ein Gericht überzeugen zu müssen, können Staatsanwältinnen und Staatsanwälte Freiheitsstrafen von bis zu sechs Monaten aussprechen. Trotz dieser grossen Macht wird ihre Arbeit kaum kontrolliert.

Der Beobachter möchte das ändern. Zusammen mit dem Verein Entscheidsuche.ch und einer Fachjury verleiht er von nun an jährlich den «Fehlbefehl des Jahres».

Trophäe Fehlbefehl des Beobachters
Quelle: Beobachter

Was einigen Beschuldigten trotz Rechtsmittelbelehrung nicht klar sein dürfte: Beim Strafbefehl handelt es sich nur um das Angebot, ein Strafverfahren ohne richterliche Entscheidung zu beenden, wenn Betroffene mit Schuld und Strafe einverstanden sind. Das Verfahren kann zur Anwendung kommen, wenn nicht mehr als 180 Tagessätze Geldstrafe oder 180 Tage Freiheitsstrafe verhängt werden. Der Beschuldigte kann das Angebot annehmen oder Einsprache erheben. Diese ist kostenlos, eine Begründung brauchts nicht. Ohne rechtzeitige Einsprache wird das Angebot zum rechtskräftigen Urteil.

Vollumfänglich freigesprochen

Eine Einsprache kann sich lohnen. Das zeigen Zahlen, die dem Beobachter vorliegen. So stellte in Zürich die Staatsanwaltschaft bei 13 Prozent der Einsprachen das Verfahren ein, etwa weil es zu einer Einigung zwischen den Parteien kam. In den Fällen, in denen die Staatsanwaltschaft am Strafbefehl festhielt und diesen zur Beurteilung ans Gericht überwies, endete in den vergangenen Jahren etwas mehr als jedes zehnte Verfahren mit einem vollumfänglichen Freispruch. Höher war die Freispruchsquote in Zug. Dort kam es im letzten Jahr bei jeder fünften Einsprache zur Einstellung des Verfahrens.

In Baselland führte gar jede vierte Einsprache zur Verfahrenseinstellung. Allerdings kommt diese Quote durch einen kuriosen Sondereffekt zustande. Den Strafbefehl hatten Fahrzeughalter bekommen, mit deren Auto ein Verkehrsdelikt begangen worden war. Wer gefahren war, wollten sie nicht sagen. Erst als ihnen bewusst wurde, dass sie für das Delikt würden geradestehen müssen, erhoben sie Einsprache und gaben den Namen des Fahrers preis. Das Verfahren gegen sie selbst wurde in der Folge eingestellt. Etwa zwei Drittel der Einstellungen erfolgten aufgrund dieser Sachlage.

Kritik verhallt ungehört

Das Parlament hätte es in der Hand gehabt, die problematischen Aspekte des Strafbefehlsverfahrens zu verbessern. Die Kritik von namhaften Rechtsfachleuten wurde aber weitgehend ignoriert. «Unsere Kritikpunkte fanden beim Parlament kein Gehör. Das Argument lautete im Wesentlichen, dass in diesem Fall der Effizienzgewinn, der mit dem Strafbefehlsverfahren angestrebt werde, verlorengehe», sagt Niklaus Ruckstuhl vom SAV.

Immerhin beinhalte die revidierte Strafprozessordnung eine Verbesserung. In Zukunft müsse der Beschuldigte zwingend einvernommen werden, wenn eine Freiheitsstrafe drohe.

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