«Stellen Sie sich vor, der Captain der gegnerischen Fussballmannschaft wäre gleich noch der Schiedsrichter. Da kann man sich noch so sehr Mühe geben, neutral zu sein, ganz wird das nie funktionieren», sagt Marc Thommen, Strafrechtsprofessor an der Universität Zürich.

Was im Fussball sofort einleuchtet, gilt in der Justiz offenbar nicht. Vor gut zehn Jahren wurde aus Spargründen und wegen hohen Zeitdrucks praktisch die ganze Strafjustiz an die Staatsanwaltschaften ausgelagert. So wollte man die Gerichte von der sogenannten Massenkriminalität entlasten. Die Folge: Staatsanwältinnen und -anwälte, die eigentlich Ermittlungen leiten und Anklage erheben sollen, bestimmen häufig gleich noch die Strafe. Ganz ohne störendes Gericht. Möglich macht das: der Strafbefehl.

Staatsanwälte können seither in eigener Regie Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten verhängen. Dafür müssen sie nicht einmal die beschuldigte Person einvernehmen. Wenn die nicht innert zehn Tagen Einsprache erhebt, gilt der Strafbefehl als rechtskräftiges Urteil. Ein Gericht als Schiedsrichter gibt es nicht mehr. Die Folge: Im Zweifel wird verurteilt statt freigesprochen.

Ohne Gericht ab ins Gefängnis

Trotz rechtsstaatlicher Bedenken haben Strafbefehle in den letzten Jahren eine überragende Bedeutung erhalten. Sie machen nun über 90 Prozent der Strafurteile aus, letztes Jahr waren es 84'475. Drei von vier Personen, die zu Freiheitsstrafen verurteilt werden, haben nie ein Gericht gesehen.

Gesucht: Krasse Fälle

92 Prozent aller Verbrechen und Vergehen werden mit Strafbefehlen abgeurteilt. Ohne ein Gericht überzeugen zu müssen, können Staatsanwältinnen und -anwälte Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten aussprechen. Trotz dieser grossen Macht wird ihre Arbeit kaum kontrolliert.

Der Beobachter möchte das ändern. Zusammen mit dem Verein Entscheidsuche.ch und einer Fachjury küren wir den Fehlbefehl des Jahres. Senden Sie uns Ihren Strafbefehl, den Sie stossend finden, mit einer kurzen Beschreibung des Falls an: strafbefehl@beobachter.ch. Oder anonym: sichermelden.ch.

Recherchen des Beobachters belegen nun, dass die Staatsanwaltschaften teilweise etwas sorglos mit ihrer Macht umspringen – wohl auch, weil ihnen die Zeit fehlt. Darauf weisen Fälle hin wie jener des jungen Afghanen, über den der Beobachter im Frühling berichtete .

Der Mann war an der Stadtgrenze von Zürich verhaftet und für zwei Tage in Polizeihaft gesteckt worden. Im Strafbefehl stand, er habe sich «wissentlich und willentlich» auf Stadtgebiet aufgehalten, obwohl das Migrationsamt das verboten hatte. Zufällig erhielt der Afghane die Nummer eines Anwalts. Der gab dann die im Strafbefehl angegebenen Koordinaten auf Google Maps ein und stellte fest: Der Mann wurde ausserhalb des Stadtgebiets festgenommen.

Dutzende rechtswidrige Fälle

Das hatte der Afghane zwar bei seiner Verhaftung den Polizisten zu erklären versucht, die Staatsanwältin machte sich aber nicht einmal die Mühe, seinen Einwand zu prüfen. So musste sie das Strafverfahren einstellen, der Verhaftete erhielt Fr. 507.90 Entschädigung.

Gemäss Strafprozessordnung dürfen Strafbefehle Schludriger Umgang mit Strafbefehlen Zwei Tage in Haft, weil Staatsanwaltschaft schlampte nur erlassen werden, wenn «der Sachverhalt eingestanden oder anderweitig ausreichend geklärt» ist. Dem Beobachter wurden aber Dutzende Fälle zugespielt, die diese Voraussetzung nicht erfüllen. Sie bilden wohl nur die Spitze des Eisbergs, sagen erfahrene Strafverteidiger, die anonym bleiben wollen. Denn sie sind auf gute Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft angewiesen.

Besonders viele Strafbefehle verschicken die Staatsanwaltschaften im Kanton Zürich.

Besonders viele Strafbefehle verschicken die Staatsanwaltschaften im Kanton Zürich. Jedes Jahr sind es gut 14'000. Wie viele davon sind fehlerhaft?

Der Kanton Zürich gilt generell als vorbildlich, wenn es um transparente Daten geht. Mit wenigen Klicks erfährt man etwa, was die beliebtesten Hundenamen sind oder wie viel Rindvieh grast. Doch ausgerechnet bei Strafbefehlen stösst man auf eine Wand des Schweigens. Es entsteht gar der Verdacht, dass Zahlen verheimlicht würden.

Wie gross ist etwa der Anteil an Strafbefehlen, die nach einer Einsprache Strafbefehl Wann lohnt sich eine Einsprache? der Beschuldigten eingestellt werden? Diese Zahl wäre ein Indiz dafür, wie gut die Qualität der Strafbefehle ist. «Wir erfassen das in unserem Rechtsinformatiksystem nicht», so die Oberstaatsanwaltschaft auf Anfrage. Sie teilt nur mit, dass jedes Jahr knapp 1400 Einsprachen eingehen. Erst das Obergericht lässt wissen, dass von diesen 1400 Einsprachen nur rund 300 an Bezirksgerichte weitergeleitet werden, etwa 20 Prozent.

Viele offene Fragen

Was mit den restlichen 80 Prozent passiert, weiss die Staatsanwaltschaft offenbar selbst nicht. Werden diese Verfahren eingestellt? Oder ändert man die Strafbefehle? Oder erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage? Immer wieder heisst es dazu: «Über weitere Statistiken zu Ihren Fragestellungen verfügen wir derzeit nicht.»

Es ginge auch anders. Die Stadtrichter- und Statthalterämter, die ebenfalls Strafbefehle erlassen, haben teils diese Daten und geben sie auch weiter. Laut Stadtrichteramt Zürich stellt man rund 20 Prozent der Verfahren nach Einsprache ein. Es kann nur Bussen bis 500 Franken Straftat begangen So straft der Staat sprechen – die Zahl ist daher nicht auf Staatsanwaltschaften übertragbar.

Verheimlicht die Zürcher Staatsanwaltschaft also Zahlen? Von den Recherchen des Beobachters aufgeschreckt, wird nun die Oberaufsicht aktiv: die Justizkommission des Kantonsrats. Ihr Präsident, der Mitte-Politiker Jean-Philippe Pinto, hat den Leitenden Oberstaatsanwalt Andreas Eckert zur Anhörung bestellt. Laut Pinto ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Staatsanwaltschaft die verlangte Statistik nicht hat.

92% aller Urteile in der Schweiz sind heute Strafbefehle. Staatsanwälte fällen sie im Alleingang.

Strafrechtsprofessor Marc Thommen weiss, wie Staatsanwaltschaften mit unangenehmen Fragen umgehen. Er und sein Team haben gut 3000 Strafbefehlsdossiers für eine Studie des Nationalfonds untersucht. Die teilveröffentlichten Ergebnisse:

  • Ausländische Beschuldigte werden überproportional häufig mit Gefängnis bestraft. Jeder vierte Strafbefehl bei Delikten gegen das Ausländergesetz führt zu Haft.
  • Fast die Hälfte der Strafbefehle wird nicht übersetzt, obwohl die Beschuldigten die Sprache nicht verstehen – rechtswidrig.
  • Jeder zehnte Strafbefehl wird nur fiktiv zugestellt, das heisst: nicht persönlich und nicht per Post. Deshalb sitzen Menschen im Gefängnis, ohne dass sie wissen, warum.

Die untersuchten Staatsanwaltschaften weigern sich bis heute, öffentlich zu diesen Ergebnissen Stellung zu nehmen. Fragen des Beobachters beantwortet nur noch die Schweizerische Staatsanwälte-Konferenz: «Wir verweisen auf unsere bisherigen Antworten auf Ihre Anfrage. Wir werden keine Stellungnahme zu Zwischenpublikationen dieser SNF-Studie abgeben, bevor die Studie abgeschlossen ist und die wissenschaftlich validierten Ergebnisse und Schlussfolgerungen zuvor den beteiligten Behörden vorgestellt worden sind», heisst es da.

Strafrechtsprofessor Thommen sagt dazu: «Die Datenerhebungen in den Kantonen sind abgeschlossen. Die Zahlen wurden den Staatsanwaltschaften präsentiert, sie konnten dazu Stellung nehmen.»

Der Beobachter-Newsletter – wissen, was wichtig ist.

Das Neuste aus unserem Heft und hilfreiche Ratgeber-Artikel für den Alltag – die wichtigsten Beobachter-Inhalte aus Print und Digital.

Jeden Mittwoch und Sonntag in Ihrer Mailbox.

Jetzt gratis abonnieren