Neun von zehn Jugendlichen in der Schweiz halten sich für «gesund» bis «sehr gesund». Die neusten Umfragen zur Befindlichkeit der Jugendlichen zeigen aber auch: Ein Fünftel der Knaben und fast die Hälfte der Mädchen zwischen 13 und 15 Jahren fühlen sich oft «traurig» und «bedrückt».

Das sind deutliche Alarmzeichen, die von der Wirklichkeit gestützt werden, denn jedes Jahr nehmen sich über hundert Menschen vor dem zwanzigsten Geburtstag das Leben – also mehr, als bei Verkehrsunfällen sterben.

Verhaltensprobleme nehmen zu

Unsere Leistungsgesellschaft schafft Risiken, die sich nicht mit Impfungen, Antibiotika und Schutzhelmen ausmerzen lassen: Erwartungsdruck, Unsicherheit, Versagerängste, Selbstzweifel – bis hin zur Verzweiflung. Die Folgen können sich schon in jüngster Kindheit bemerkbar machen: Jan ist aggressiv, Pascal unkonzentriert, Nina hat keine Ausdauer, Lukas ist hyperaktiv und Philip alles zusammen. Deutlich mehr Knaben als Mädchen verhalten sich auffällig – zumindest aus Sicht der Erwachsenen.

«Der Anteil an rein medizinischen Fragen und Problemen ist klar rückläufig. Dafür nehmen Verhaltens- und Erziehungsfragen zu», sagt der Schaffhauser Kinderarzt Andreas Tschumi. Und Remo Largo, Professor für Kinderheilkunde am Universitätsspital Zürich, stellt fest: «Viele Eltern sind zutiefst verunsichert. Sie lesen Zeitschriften und Bücher – in der Hoffnung, verbindliche Aussagen zu bekommen, wie Kinder zu erziehen sind, damit sie den Ansprüchen ihrer Umwelt genügen können».

Wer Orientierung sucht, stösst unweigerlich auf das Erziehungsgebot Nummer eins. Es heisst «Kinder stark machen» und umschreibt zunächst einmal das, was Eltern schon immer getan haben: Kinder betreuen und unterstützen, bis sie auf eigenen Beinen stehen. Bereits unsere urzeitlichen Vorfahren haben diese Aufgabe erfolgreich gemeistert, sonst hätte die Menschheit kaum bis heute überlebt.

Wie überall im Leben hat auch hier die Natur ihre Hand im Spiel. Mütter und – in geringerem Ausmass – Väter verfügen über einen angeborenen Instinkt, der ihnen vorgibt, wie sie sich ihrem Kind gegenüber richtig verhalten. Wobei «richtig» bedeutet: die wahren Bedürfnisse des Kindes erkennen und befriedigen. So können Mütter oft gar nicht anders, als ihr weinendes Baby sofort in die Arme zu nehmen – gegenteilige Ratschläge hin oder her.

Die Natur will, dass es dem Kind gut geht, dass es wachsen und sich bestmöglich entwickeln kann. Der Säugling verfügt deshalb über ein angeborenes Repertoire an Signalen, mit denen er auf Störungen und Probleme aufmerksam machen und seine Umwelt dazu bringen kann, sein Wohlbefinden wiederherzustellen. Es ist also in erster Linie das Kind, das seine Betreuer steuert, nicht umgekehrt. Da es dabei auch den Betreuenden gut gehen soll, werden beim Stillen, Pflegen und Zärtlichsein auch die Eltern mit höchst angenehmen Gefühlen belohnt.

Kinder senden wichtige Signale

Es tut sich aber noch mehr: Indem Eltern auf die Signale angemessen antworten, erfährt das Kind, dass es seine Welt positiv beeinflussen kann. Reagieren die Betreuer hingegen häufig falsch oder gar nicht auf das Weinen, wird das Baby irgendwann zwar still sein. Doch die Ruhe hat einen hohen Preis: Das Kind erlebt seine Bedürfnisse als unerwünscht – vielleicht sogar als etwas Feindliches.

Da ein kleines Kind noch kein Zeitgefühl besitzt, kann es auch nicht hoffen, dass es ihm später wieder besser gehen wird. Es kennt nur das Hier und Jetzt, und seine Welt ist entweder richtig oder falsch.

Das prägt. Zwar halten Kinder ein gewisses Mass an Frustrationen aus. Wiederholen sich jedoch die Erfahrungen des Ausgeliefertseins, wird sich das Kind auch später in schwierigen Situationen passiv verhalten und von anderen abhängig sein. Es hat ja nichts anderes gelernt.

Ein Kind ist kein leeres Blatt, das von seiner Umwelt beliebig beschrieben werden kann. Es braucht auch keine «Starkmacher», denn es ist bereits stark – auf seine individuelle und altersentsprechende Weise. Und es macht sich selber stärker – vorausgesetzt, seine Betreuer schaffen den Rahmen für jene kleinen und grossen Erfahrungen, aus denen Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen wachsen können:



  • Geborgenheit: Meine körperlichen und seelischen Bedürfnisse werden befriedigt.

  • Zuwendung und soziale Anerkennung: Ich fühle mich angenommen, wie ich bin. Die Menschen, die mir wichtig sind, haben Zeit für mich und sind gern mit mir zusammen.

  • Entwicklung und Leistung: Ich habe etwas selber geschafft, ich mache das gern, ich kann mit den anderen mithalten.



Konkret bedeutet dies: Sobald der kleine Tobi körperlich bereit ist, wird er die Treppe hinaufklettern wollen. Seine Eltern ermuntern ihn, lassen ihn gewähren und passen auf, dass er sich nicht verletzt. Wenn kein Betreuer in der Nähe sein kann, wird die Treppe mit einem speziellen Schutzgitter gesichert.

Hat Tobi die nötige Sicherheit erlangt, kommt das Gitter weg, und er kann fortan jede Treppe allein erobern. Kurz: Tobi hat die Gelegenheit erhalten, die «gespeicherte» Stärke anzuwenden und deren Wirkung zu spüren.

Solange das Kind klein ist und keine äusseren Belastungen die Familie bedrohen, funktionieren diese natürlichen Mechanismen gut. Eltern stellen sich intuitiv auf die individuellen Eigenheiten und Fähigkeiten ihres Kindes ein und nehmen sich Zeit dafür. Sie spüren, wie viel Geborgenheit, Zuwendung und Anregung das Kind braucht. Mit der Zeit jedoch ändert sich das. «Je älter das Kind wird, desto weniger lassen sich die meisten Eltern von ihrer Intuition leiten», sagt Remo Largo. «Sie orientieren sich nicht mehr an ihrem Kind, sondern an Erziehungskonzepten, die von aussen an sie herangetragen werden.»

Idealbilder haben fatale Folgen

Fernsehen, Zeitschriften, Bücher, Werbeplakate – all diese Medien erinnern uns tagtäglich daran, wie unsere Kinder und Jugendlichen sein sollten, um im Leben bestehen zu können: aufgeweckt, neugierig, wissensdurstig, leistungsbereit, nicht zu dick und nicht zu dünn, sportlich, cool, selbstsicher, englisch sprechend, computerbegeistert, fröhlich und erfolgreich. Jedes Bild, jedes Merkmal vermittelt uns in irgendeiner Form einen Idealzustand – und die mehr oder minder deutliche Aufforderung, diesen zu erreichen.

Dass Kinder «es» nicht schaffen könnten, ist in der heutigen Leistungsgesellschaft nicht vorgesehen – wozu denn gibt es Verhaltenstherapien, Nachhilfeunterricht und Förderkurse? Selbstverständlich kann es angebracht sein, ein Kind mit individuellen Massnahmen zu fördern. Generell jedoch gilt: Jedes Kind möchte das verwirklichen, was in ihm steckt. Dies allerdings auf seine Weise, in seinem Tempo und zu seiner Zeit.

Kinder leiden unter Leistungsdruck

Die Tendenz, Kinder immer früher und mit allen möglichen Methoden voranzutreiben, nimmt keine Rücksicht auf die Vielfalt der Entwicklung. Remo Largo: «Das Bedürfnis des Kindes, entwicklungsgerechte Erfahrungen zu machen, verträgt sich nicht mit der immer grösser werdenden Förderwut.» Oder, wie ein afrikanisches Sprichwort sagt: «Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.»

Kommt hinzu, dass von vielen Kindern nicht nur gefordert wird, «es» zu schaffen; sie sollen darüber hinaus möglichst wenig Probleme machen. Da bleibt selbst zum Kranksein keine Zeit mehr: Krankheit wird zunehmend als Störfaktor betrachtet, den es möglichst rasch zu beseitigen gilt.

Ungeduld ist jedoch gerade bei Kinderkrankheiten fehl am Platz. Fieber, verschnupfte Nasen und entzündete Mandeln, aber auch typische Kinderkrankheiten wie Scharlach oder Mumps spielen einerseits eine zentrale Rolle beim Aufbau der körpereigenen Abwehrkräfte, zum anderen prägen sie die persönliche Entwicklung. In unserer Umwelt tummeln sich Tausende von potenziellen Krankheitserregern. Das Abwehrsystem muss diese zuerst kennen lernen; erst dann kann es gegen die gefährlichen unter ihnen eine wirksame Abwehr entwickeln. Anders gesagt: Je erfahrener und je «trainierter» das Immunsystem, desto seltener wird das Kind krank.

«Natürlich ist jede Krankheit eine Belastung für das Kind und seine Familie», sagt der Kinderarzt Andreas Tschumi. «Krankheiten tragen aber auch dazu bei, dass das Kind ein differenziertes Bewusstsein für seinen Körper entwickeln kann und lernt, ihm zu vertrauen. Es erlebt, dass die Schwäche vorübergeht und auch ihr Gutes hat.» Vor allem grössere Kinder geniessen es ungemein, wenn sie plötzlich wieder umsorgt werden.

Krankheit deutet oft auf Stress hin

Krankheit ist auch eine Möglichkeit für das Kind, sich zurückzuziehen, wenn ihm alles zu viel wird. So kann es Kräfte sammeln, um den Anforderungen bald wieder zu genügen.

Das ist der übliche Weg. Remo Largo und viele andere Experten plädieren stattdessen dafür, die Umwelt des Kindes so zu gestalten, dass es gar nicht erst «aussteigen» muss.

So einleuchtend dieser Ansatz ist, so schwierig ist seine Umsetzung. Zu mächtig ist der äussere Druck, zu tief sitzt die – oft uneingestandene – Zukunftsangst, zu zahlreich sind Sachzwänge und die eigenen Bedürfnisse der Erwachsenen. Das Kind der Umwelt anzupassen ist allemal einfacher. Die vielen «auffälligen» Kinder deuten jedoch darauf hin, dass Probleme auf diese Weise nur verschoben und nicht wirklich gelöst werden.

Haben Sie Vertrauen in Ihr Kind

Anderseits: Das Prinzip «Gewähren lassen» verlangt von den Eltern und anderen wichtigen Bezugspersonen ein solides Grundvertrauen – in das Kind und in die eigenen Fähigkeiten.

Vertrauen fällt allerdings nicht vom Himmel und ist auch kein Dauerzustand: Es muss immer wieder von Neuem erarbeitet werden. Kinder, die stark werden sollen, brauchen deshalb vor allem eines: starke Erwachsene!