Das Problem:

Ich habe vor zwei Jahren meine Mutter verloren, kürzlich meinen Mann, und

meine Tochter ist schwer krank. Ich frage mich, ob die Schmerzen je wieder aufhören, und versuche mich abzulenken, was mir aber sehr schlecht gelingt.

Berta G.

Koni Rohner, Psychologe FSP:

Zwar ist Ihre spontane Reaktion auf den Schmerz verständlich, aber aus psychologischer Sicht falsch. Darum gelingt die Ablenkung auch nicht. Leiden löst sich nur dann auf, wenn man hindurchgeht, nicht wenn man wegschaut. Es mag zwar gelingen, den Schmerz zu verdrängen, doch bereits Sigmund Freud hat erkannt, dass Verdrängtes im Unbewussten bestehen bleibt und von dort aus eine meist destruktive Wirksamkeit entfaltet.

Das Unbewusste kennt keine Zeit. Die Psychotherapie zeigt immer wieder, dass Schmerzen jahrzehntelang im «seelischen Keller» verborgen bleiben können, bei Gelegenheit aber hervorbrechen, als ob das traumatische Erlebnis am

Vortag geschehen wäre. Oft kommt verdrängtes Leid verzerrt als allgemeine Lebensunlust zum Vorschein und wird «Depression» genannt.

Selbstverständlich bedeutet es nicht Heilung, wenn dieses Symptom mit stimmungsaufhellenden Medikamenten überdeckt wird, wie es heute immer häufiger geschieht. Die Heilung kann nur dadurch geschehen, dass alle mit dem Schicksalsschlag verbundenen Gefühle noch einmal gespürt und benannt werden.

Ablenkung bringt keine echte Heilung

Diese Erkenntnis entspricht nicht dem Zeitgeist. Wir versuchen ständig, glücklich und aufgestellt zu sein, und verbannen leidende Menschen, Kranke und Alte an den Rand der Gesellschaft. Wir wollen nicht daran erinnert werden, dass auch Unglück zum Leben gehört. Unsere Welt ist voll von Ablenkungsmöglichkeiten wie Fernsehen, Sport, Freizeitspass damit wir den Leidensaspekt des Lebens nicht sehen müssen. Der Preis dafür ist eine dauernde Gehetztheit und Oberflächlichkeit, weil wir uns auf einen wesentlichen Aspekt des Lebens nicht einlassen wollen bis uns ein Schicksalsschlag dazu zwingt.

Wer sich dem Leiden aber stellt, wird bemerken, dass es nicht so schlimm ist, wie er oder sie es befürchtet hat. Alles Irdische ist vergänglich, und auch schweres Leiden geht vorüber, wenn man es annehmen kann und sich nicht dagegen stemmt. Die Homöopathie hat erkannt, dass der Mensch nach einer Krankheit gesünder ist als vorher. Das gilt auch für seelisches Leid: Wer durch solche Erfahrungen hindurchgehen musste, wird in der Regel reifer und mitfühlender.

Selbstverständlich sucht niemand mit Absicht schmerzhafte Erfahrungen. Gewöhnlich stolpern wir hinein oder werden hineingestossen. Das viel gepriesene «Loslassen», das uns seelischen Frieden bringen soll, ist nicht einfach durch eine Willensanstrengung machbar. Zum Loslassen werden wir meist durch Schicksalsschläge gezwungen. Dass die Fähigkeit loszulassen zu einer grösseren Freiheit und zu mehr Gelassenheit führt, ist bereits verschiedentlich beschrieben worden, beispielsweise im Buch «Das Lola-Prinzip».

Kommunikation und Kreativität helfen

Wenn man sich dem eigenen Leid zuwendet, besteht die grösste Gefahr darin, mitten im Prozess stecken zu bleiben. Es ist sehr wichtig, dass man den Schmerz fliessen lassen kann. Anschaulich zeigt sich dies im Fliessen der Tränen. Aber auch ohne Tränen ist ein Gefühlsfluss möglich. Sehr hilfreich ist dabei die Kommunikation mit Freunden oder im Therapiegespräch. Auch weitere kreative Ausdrucksformen wie Schreiben, Malen und Musikmachen helfen.

Der Dichter Hermann Hesse notierte in sein Tagebuch, dass Schreiben das Leid flüssig mache und bereits eine Erleichterung bringe. Man soll nicht gegen die Gefühle ankämpfen, sondern Mitgefühl mit sich selber haben. Man soll genau hinschauen und nachspüren, ob es sich um Wut, Verzweiflung, Angst, Trauer, Vorwürfe oder Selbstvorwürfe handelt. Es geht also nicht ums Überwinden oder Bekämpfen von Gefühlen, sondern ums Hindurchgehen und Annehmen des Leids als Teil des Lebens.

Sigmund Freud hat den gesunden Menschen als jemanden beschrieben, der arbeits- und genussfähig ist. Ich ergänze: Ein unneurotischer Mensch ist auch leidensfähig. Er kann sich auch den schmerzhaften Aspekten des Lebens stellen, ohne daran zu verzweifeln. Im Leid brechen seelische Verkrustungen und Panzer auf. Wir spüren unsere Zerbrechlichkeit und unsere Verletzlichkeit und erkennen auch, dass wir diese Eigenschaften mit allen anderen Menschen teilen.

Wer den Leidensaspekt des Lebens akzeptiert, ist gleichzeitig andern gegenüber mitfühlender und mitmenschlicher geworden.

Buchtipp

René Egli: «Das Lola-Prinzip. Die Vollkommenheit der Welt.» Editions d'Olt, 2001, 39 Franken