Endlich, das Zvieri-Buffet ist eröffnet. «You bring me a pizza and a coffee cream», sagt eine Frau und lässt ihre linke Hand flattern, als möchte sie den Kellner verscheuchen wie eine lästige Fliege. «Der ist aber schwer von Begriff», sagt sie zu ihrer Tochter. Der Kellner wollte ihr erklären, dass man sich am Buffet selbst bedient. Erfolglos. Ohne zu murren, bringt er ihr das Gewünschte. «Und wo isch d Gable?» Am Nebentisch steckt sich Jean-Claude Crezet, 63, eine Marylong an. «Ich rauche wie ein Schlot», sagt er. Seine Tischnachbarin wendet sich ab.

Dann sticht die «Grand Voyager» in See. Zeit für eine Einführung. Ein Projektleiter des Reiseveranstalters redet auf die versammelten Passagiere ein. Er spricht von Arztterminen, Blutwerten, Kreislaufproblemen. «Alles ist gesponsert. Eine Blutentnahme kostet sonst 500 Franken. Hier ist alles inklusive», sagt er. Draussen zieht der Canale Grande vorbei.

Die «Grand Voyager» ist eines der schnellsten Kreuzfahrtschiffe der Welt. Einmal im Jahr kreuzt sie als Gesundheitsschiff von Fernsehdoktor Samuel Stutz durchs Mittelmeer: Venedig, Malta, Tunis, Rom, Messina, Split, Venedig – in acht Tagen. An Bord 500 meist betagte Passagiere, 368 Crewmitglieder und 17 Ärzte mit Hilfspersonal. Das Programm: eine Hand voll Halbtagesausflüge und Gesundheitschecks à gogo. Es gibt ein Herz-Zentrum, ein Diabetes-Stoffwechsel-Zentrum, ein Augen-Zentrum, ein Zentrum für Ernährung, ein Gefäss- und ein Kopfweh-Zentrum, ein Haut-Zentrum, Zentren für den Mann und für die Frau, ein Brust-Zentrum und auch ein Zentrum für Traditionelle Chinesische Medizin. Anlaufstellen für alle möglichen Zipperlein. Mit freundlichen Grüssen diverser Pharmafirmen.

Die Schweizer: spröde, aber bescheiden

Rose-Marie Rindelaub, 67, aus Bôle ist zum zweiten Mal dabei. «Ich habe schon alle möglichen Checks gemacht. So viele wie möglich halt. So bekommt man Vergleichsmöglichkeiten», sagt sie. Bis jetzt sei bei ihr noch nichts Ernsthaftes gefunden worden. Rindelaub hofft, noch einen Termin im Gefäss-Zentrum ergattern zu können. «Es ist zwar total ausgebucht. Aber ich bin ein spezieller Fall. Ich werde sicher noch zugelassen», sagt sie. Gesundheitliche Abklärungen als Freizeitbeschäftigung, der Arztbesuch als Hobby. Man will schliesslich auch etwas fürs Geld: Zwischen 2870 (Doppel-Innenkabine) und 6215 Franken (Einzel-Aussenkabine) bezahlen die Passagiere für die acht Tage an Bord der «Grand Voyager». Ausflüge und Getränke kosten extra. Es ist das Schiff für Alte und alle, die es werden wollen.

«Krankheit ist oft nicht Schicksal, sondern die Quittung für einen ungesunden Lebensstil», sagt Fernseharzt Samuel Stutz. Die Finger seiner rechten Hand klopfen auf das Salontischchen. «Diese Reise ist ein Investment in die Gesundheit», erklärt er. Der Tisch wackelt vor Nachdruck. «Bei der Hälfte der Gäste kommt diese Botschaft an. Die andere Hälfte kapierts beim nächsten Mal», ist er überzeugt. Bei manchen brauchts mehr: Es gibt solche, die sind schon zum dritten Mal auf dem Gesundheitsschiff dabei.

Auf Deck 7 wird Gymnastik unterrichtet. Frauen sitzen auf dem Boden, drehen sich langsam, «gaaanz langsam», wie die Instruktorin betont. Rundherum sitzen Männer vor Longdrinks. «It’s easy with the Swiss», sagt Kellnerin Yahima, 26, aus Kuba. Die Spanier, die normalerweise dieses Schiff buchen, seien viel anspruchsvoller. Umgerechnet 1500 bis 1800 Franken verdient Yahima im Monat. Sie arbeitet sieben Tage die Woche, acht Monate pro Jahr. Es ist ihr viertes Jahr auf See. «Hier scheint es um Medikamentenwerbung zu gehen. Komisch. Mir kanns egal sein. Ich arbeite gern mit alten Leuten», sagt sie.

Die Crew der «Grand Voyager» stammt fast ausschliesslich aus Mittel- und Südamerika, aus Kuba, Kolumbien, Honduras, Peru. Es ist ein absurdes Ballett: Im Rhythmus der See prallen die schiffsunerprobten Senioren in die Angestellten, stösst die Schweizer Sprödheit auf den Charme der Karibik. Man streift sich knapp, schlittert haarscharf aneinander vorbei, kommt kaum ins Gespräch. Bordsprache ist Spanisch oder Englisch.

«Äxgüsi, wo gehts hier rauf?», fragt Jean Herbst, 92. Er ist schon zuoberst, auf Deck 7. Er wolle halt immer höher, eine Alterserscheinung, murmelt er. Die «Grand Voyager» ist 180 Meter lang und 26 Meter breit, es gibt drei Treppenhäuser, fünf Bars, zwei Restaurants. «All diese Treppen. Im Urwald käme ich besser zurecht als auf diesem Schiff», meint der ehemalige Buchdrucker und Erfinder aus Zürich.

Sie sind die jüngsten Passagiere an Bord: Alexandra, 34, und Fridolin Hartmann, 35, aus Ebnat-Kappel haben die Kreuzfahrt bei einem Telefonwettbewerb in Stutz’ Fernsehsendung gewonnen – und merken müssen, dass sie nicht zur Zielgruppe gehören. Sie nehmen es mit Humor und haben sich je für fünf Zentren angemeldet. «Die chinesische Medizin hat mich schon immer mal interessiert», sagt er. «Vielleicht sind wir ja nachher alle krank», kichert sie.

«All diese Leute haben so viel zu erzählen. Geschichten, Eindrücke, Erfahrungen. Leute, die begriffen haben, dass sie etwas tun müssen», berichtet Samuel Stutz begeistert im Vorbeigehen. «Das ist, was ich ankicken will: dass die Diabetiker etwa mit Nordic Walking anfangen. Denn genau die Generation, die hier an Bord ist, ist hochgradig gefährdet. Gefährdet durch Wohlstand: 80 Prozent von ihnen sind übergewichtig, leiden unter Bewegungsarmut», sagt er. «Das sind die heutigen Epidemien!» Seine Wangen sind gerötet.

Die Raucher stehen draussen im Neonlicht, schauen raus aufs dunkle, rasch vorüberziehende Meer. Es ist 20.11 Uhr, vor dem Bordrestaurant steht eine ungeduldige Menschenmenge. Um 20.30 Uhr ist die zweite Abendessen-Session angesetzt. Doch erst muss sich der Esssaal von der ersten Session leeren. «Bei den Spaniern würde jetzt die erste Session beginnen», sagt Kellner Moreno, 33, aus Peru. Die zweite sei jeweils um 22.30 Uhr angesetzt. Da sei kaum vor 2 Uhr früh Schluss.

«Mir kann keiner helfen»

Am Morgen, 7 Uhr: Das Gebrüll der Schiffsmotoren schafft eine an Stille gemahnende Monotonie. Unter Deck ist das Schiff menschenleer, alle sind schon wieder im Esssaal. Es gibt Spiegeleier, harte Eier, Rühreier, Bratspeck, Aufschnitt, Schinken, Käse und lüttrigen Milchkaffee. Fröhlich ist nur das Personal. Nach dem Frühstück empfangen die Ärzte ihre ersten Patienten.

Die Gesundheitsmaschinerie ist angelaufen. Mancher Passagier trägt einen Verband um den Ellbogen von der Blutentnahme. Andere schreiten das Schiff ab auf der Jagd nach Müsterli der Sponsoren. Nestlé ist mit einem grossen Messestand vertreten. Jeden Morgen verschickt der Lebensmittelmulti zudem ein Merkblatt zur Ernährung in die Kabinen: «Essen und trinken Sie sich fit», heisst es darin.

«In der Schweiz gibt es eine Million Migräniker», so Neurologe Reto Agosti, 47, von der Zürcher Klinik Hirslanden. Er betreut das Kopfweh-Zentrum an Bord. «Zwei Drittel der Passagiere auf diesem Schiff sind noch nie wegen Kopfweh untersucht worden. Da gehen jährlich Milliarden von Franken wegen Arbeitsausfall verloren», sagt er. Die Leute seien total unterversorgt und unterinformiert.

Eugen Lamprecht, 79, aus Eglisau plagen seit Jahren Rückenschmerzen. «Abnützungserscheinungen», sagt der ehemalige Landwirt. Tabletten schlucken möge er nicht mehr, Physiotherapie nütze nichts, operieren will er nicht. «Mir kann keiner helfen», meint er resigniert. «Jetzt versuchst du es mal mit der chinesischen Medizin», sagt seine Tochter Regula Loretz, 50. «So?», meint er. Das Alleinsein seit dem Tod seiner Ehefrau mache ihm eigentlich am meisten zu schaffen.

«Diesem Mann kann geholfen werden. 90 Prozent aller Schmerzpatienten können geheilt werden», sagt Stutz später. Er ist bekannt für seine Ferndiagnosen. «Trotz aller Supertechnologie gibt es Menschen, die auch nach jahrelanger Behandlung nicht richtig abgeklärt sind. Da gibt es Katastrophen!», sagt er im Vorbeigehen.

Die obligatorische Notfallübung: Über Bordlautsprecher werden die Passagiere aufgefordert, ihre Schwimmwesten zu behändigen und sich zu versammeln. «Die huere Üebig hät iez grad no gfeelt», klagt ein wackliges Ehepaar und trippelt zum Lift. «Treppen rauflaufen kann ich. Aber runter nicht. Ich hab ja zwei künstliche Hüftgelenke», stöhnt eine Frau am Treppenabsatz. Unaufgefordert werden Krankengeschichten vorgetragen. Später sitzen die Passagiere in orangen Schwimmwesten an den gedeckten Tischen des Speisesaals, von wo sie in Einerreihen auf Deck geführt werden. Der Bordfotograf schiesst grelle Bilder.

«Was mich stört, ist, dass es kein Fitnesszentrum an Bord hat», sagt Ernst Sturzenegger. Zu Hause stehe er mit 100 Ruderzügen auf, berichtet der vitale 79-Jährige aus Zofingen. Nur: Es gäbe schon Fitnessgeräte an Bord. Aber diese mussten dem Herz-Zentrum weichen – sie wurden für die Fahrt des Gesundheitsschiffs in einer Abstellkammer verstaut. «Mir fehlt nichts», sagt Sturzenegger. Seine Grossmutter war eine Appenzeller Kräuterhexe. Ihr Rezept für ein langes Leben ist simpel: ein Liter Brennnesseltee täglich. «46 Minuten hat mich der Chinese massiert. Keine einzige Verhärtung hat er gefunden», erzählt Sturzenegger stolz.

«Eine Katastrophe»

Ein Speisesaal wie bei Fellini: roter Spannteppich, grüne Stühle, gelbe Fenster, dahinter das tiefe Blau der unendlichen See. Die Salzstreuer klimpern im Takt der Schiffsmotoren. Plötzlich tritt Samuel Stutz auf. Seine Augen tasten den Raum ab. Er macht Fotos und verschwindet.

«Ich träume von einer diabetesfreien Gesellschaft – so wie es heute eine kariesfreie Gesellschaft gibt», erklärt Stutz.

Tatam-tatam machen die Finger, die Tischplatte vibriert. «Heute gibt es Kinder mit Altersdiabetes. Das muss man sich mal vorstellen!», ruft er. «Eine Katastrophe!» Früher sei klar gewesen: ohne Bewegung keine Nahrung. Unser heutiger Lebensstil aber unterdrücke den natürlichen Bewegungs- und Spieltrieb. «Ich predige nicht nur, ich lebe es!», sagt Stutz. Ein einsamer Rufer auf hoher See.

Mittagszeit. Wie jeden Tag steht ein Viergänger auf der Karte: gepökelter Kabeljau an Linsensalat, Paella, Meerbarbe mit Knoblauch und Petersilie und als Dessert eine Apfelüberraschung. Oder vegetarisch: gekochtes Ei mit russischem Salat, Gazpacho, Gemüse Madras. Oder à la carte: Goldmakrelenfilet mit Sardellenbutter, Fajitas mit schwarzem Bohnenreis, Rindsragout nach Burgunder Art mit Frühlingszwiebeln und Speck, Omelette mit gebratener Geflügelleber. Abends gibt es jeweils einen Fünfgänger. Die Weinkarte hat 48 Positionen.

Am Galaabend schüttelt Kapitän Gianmario Sanguineti allen Passagieren persönlich die Hand und heisst sie willkommen an Bord. Auch hierfür braucht es zwei Sessions. Der Kapitän stellt sein Schiff vor und seine Offiziere, spricht einen Toast. Kurz spielt ein Alleinunterhalter. Minuten später ist der Spuk wieder vorbei. Die Herren in Uniform treten ab, ohne ihren Schaumwein getrunken zu haben, und die Passagiere werden gebeten, die Alexander The Great Hall zu verlassen und woanders weiterzutrinken. Man müsse den Raum für die Show am Abend vorbereiten, so die Durchsage. Das Tanzprogramm wird kaum besucht sein – eine Etage höher gibt es zur gleichen Zeit einen Vortrag über Herzkrankheiten.

«Ich versuche, keine Sendung von Doktor Samuel Stutz zu verpassen», sagt Peter Beck, 53, aus Schaan. Seit Jahren schon interessiere er sich für Gesundheitsthemen – er habe mittlerweile auch schon verschiedene gesundheitliche Probleme. «Es ist alles nicht mehr so glatt», seufzt der Chauffeur und zählt seine diversen Gebrechen auf. Hinter ihm versinkt Afrika am Horizont. Weisse Schaumkronen spielen auf der schwarzen See.

Und wieder ist Zvieri-Zeit. Auflauf, Pizza, Wurst, Quarktorte, Streuselkuchen, Schokoladekuchen, Apfelstrudel, Götterspeise stehen bereit. Eigentlich gibt es auf dem Gesundheitsschiff ständig etwas zu essen. «Das ist eben die Herausforderung», findet Samuel Stutz. «Hier müssen die Leute lernen, damit umzugehen.» Das hat hier keiner gehört.

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