Die Diagnose Darmkrebs kam für Raphael Zahn überraschend. Obwohl er wusste, dass etwas nicht mehr stimmte: Etwa ein halbes Jahr lang hatte er unter Bauchschmerzen und Verdauungsstörungen gelitten. Als weder Blut- noch Ultraschalluntersuchungen Hinweise auf die Ursache lieferten, wurde im Dezember 2018 eine Darmspiegelung gemacht.

«Dann ging alles sehr schnell», erinnert sich Zahn. Es folgten weitere Untersuchungen am Universitätsspital Zürich, und ein paar Tage später stand fest: Er hatte Darmkrebs und bereits mehr als 20 Metastasen. 

Am 22. Dezember – seinem Hochzeitstag – begann er seine erste Chemotherapie und blieb dafür drei Tage im Universitätsspital. Am Morgen des 24. Dezembers wurde ihm unterhalb des Schlüsselbeins ein Portkatheter, kurz Port, eingesetzt. Das ist eine Art kleine Kammer, von der ein Schläuchlein in eine herznahe Vene führt. Darüber können Medikamente verabreicht werden, ohne dass jedes Mal eine neue Infusion gelegt werden muss. Gegen 22 Uhr durfte er nach Hause. «Das war kein bisschen Weihnachten, aber wenigstens hatte ich das Gefühl, dass etwas geschieht», erinnert er sich.

Was sagen die Studien?

Raphael Zahn war damals 37, er forschte am Institut für Elektrotechnik der ETH Zürich zu Lithium-Ionen-Batterien. Seine Frau und er hatten kurz zuvor beschlossen, dass sie nun bereit waren für Kinder. Sie überlegten auch, ein Haus zu kaufen. Aber das kam nun nicht mehr in Frage. «Anfangs habe ich mich auch bei kleineren Sachen gefragt: Lohnt sich das noch? Soll ich mir zum Beispiel eine neue Winterjacke kaufen? Doch damit habe ich aufgehört», sagt Zahn. «Ich habe schon ziemlich bald beschlossen, dass ich meine Zeit nicht damit verschwenden will, mich mit meinem Krebs zu beschäftigen.»

Ein gewisses Wissen über die Krankheit sei wichtig, auch um gut mit Ärztinnen und Ärzten sprechen zu können. Als Wissenschaftler habe er Zugang zu wissenschaftlichen Publikationen und schaue da immer mal wieder nach, was an aktuellen Studien publiziert worden sei. Und vielleicht gebe es sogar bestimmte Therapien, die er auch noch ausprobieren könnte, etwa eine Misteltherapie begleitend zur Chemotherapie. «Aber ich vertrage die Chemo ganz gut und habe keine Lust, zusätzlich einen Tag pro Woche durch die Gegend zu gurken. In dieser Zeit mache ich lieber etwas anderes.»

«Ingwer hilft mir gegen die Übelkeit. Und wenn ich nach der Chemo ein paar Kilo abgenommen habe, dann esse ich dafür nachher ein paar Tage lang Doppelrahmglace.»

Raphael Zahn, Krebspatient

Beispielsweise kochen. Das habe er immer schon gern getan, aber heute mache er es noch viel lieber und häufiger. Nicht selten erwische seine Frau ihn dabei, wie er schon frühmorgens Einkaufslisten für neue Rezepte schreibe, die er ausprobieren möchte.

Eine spezielle Krebsdiät macht er nicht. «Es besteht so schon die Gefahr, dass man bei einer Chemotherapie stark abnimmt, weil man vieles nicht mehr essen mag oder kann.» Er habe Glück, er könne meistens gut essen. Nur am Tag der Chemotherapie selbst sei ihm jeweils kotzübel, und gewisse Dinge vertrage er nicht mehr. Ingwer helfe ihm gegen die Übelkeit. Wenn er nach der Chemo ein paar Kilo abgenommen habe, esse er dafür nachher ein paar Tage lang Doppelrahmglace. 

Forschen und betreuen

Im Leben des 40-Jährigen spielen Arbeit und Sport eine wichtige Rolle. Auch wenn beides inzwischen weniger geworden ist. Anfangs sei er jeweils bereits zwei Tage nach der Chemotherapie fast 100 Kilometer Velo gefahren. «Wenn ich mich erst einmal dazu aufgerafft habe, tut mir Sport enorm gut», sagt Zahn. «Auch wenn die Chemo mich unglaublich müde macht: Nur rumsitzen oder schlafen hilft nicht. Auch arbeiten tut mir gut und macht mir Spass, und ich spüre die Übelkeit weniger, wenn ich auf etwas fokussieren kann.»

Im ersten Jahr nach der Diagnose arbeitete er etwa 70 Prozent, heute sind es zwischen 20 und 30 Prozent. «Die Chemotherapie setzt mir immer stärker zu, und ich werde stets müder», sagt er. Doch obschon er inzwischen eine volle IV-Rente erhält, betreut er weiterhin Doktoranden, und er arbeitet an Forschungsprojekten mit, so gut es geht. Seine Mitarbeitenden haben sich daran gewöhnt, dass er nach der Chemo jeweils mehrere Tage keine Mails beantworten kann. «Meetings sind kein Problem, aber wenn ich eine halbe Stunde am Computer sitze, merke ich, dass es nicht mehr geht.» Er musste lernen, mehr Geduld mit sich zu haben. Zu akzeptieren, dass er nicht mehr gleich viel leisten kann. 

«Kein anderer als vorher»

Inzwischen ist das Leben mit Krebs für ihn zur Normalität geworden. Selbst mit dem Gedanken, dass er an seinem Krebs sterben werde, habe er sich irgendwann arrangiert. Doch wenn er daran denke, was sein Tod für seine nahen Angehörigen bedeuten würde, sei das nach wie vor sehr schwierig. «Ich bin keine andere Person als vorher. In manchem bin ich gelassener geworden, aber ich ärgere mich noch immer über ähnliche Dinge wie früher. Ich freue mich nach wie vor über schönes Wetter – oder darüber, dass es zur Abwechslung mal wieder regnet. Meistens geht es mir gut oder sogar sehr gut. Auch wenn ich nicht weiss, ob das nächste Woche auch noch der Fall sein wird.»

Noch einmal operieren? Der Krebs sei heute Teil seines Lebens und bei weitem nicht der wichtigste. Und auch die glücklichste Zeit seines Lebens falle in die Zeit nach der Krebsdiagnose: Vor eineinhalb Jahren kam sein Sohn zur Welt. Für die künstliche Befruchtung hatten seine Frau und er nach Grossbritannien reisen müssen. «Weil ich das 18. Lebensjahr meines Sohnes wahrscheinlich nicht erleben werde, ist das in der Schweiz nicht erlaubt», erklärt Zahn. Nun sei seine Frau zum zweiten Mal schwanger. Wenn alles gutgeht, kommt im nächsten Januar das zweite Kind zur Welt.

«Ich konnte hoffen, dass ich wieder ganz gesund werde.»

Raphael Zahn, Krebspatient

«Deshalb spreche ich manchmal mit meinen Ärzten darüber, ob ich mich vielleicht noch einmal operieren lassen sollte oder was wir sonst unternehmen könnten, damit ich Ende Januar fit bin», sagt Zahn.

Drei Monate nach Beginn der Chemotherapie wurde er ein erstes Mal am Darm operiert. Und ein paar Monate vor der Geburt seines Sohnes wurde er auf sein Drängen hin nochmals operiert: Während acht Stunden wurde ihm am Universitätsspital Zürich an zwei Stellen im Darm sowie an diversen Stellen in der Leber, im Bauchfell und im Zwerchfell Krebsgewebe entfernt. Danach seien auf den Bildern für eine Weile nur noch eine Metastase in der Lunge und eine in der Leber sichtbar gewesen.

«Rein medizinisch betrachtet, bin ich nicht sicher, ob die Operation ein Erfolg war», sagt Zahn. Es dauerte dreieinhalb Monate, bis er wieder auf den Beinen war. Und der Krebs kam zurück. «Für mich war die Operation dennoch ein voller Erfolg. Ich war nach der Geburt meines Sohnes drei Monate lang gesund und verbrachte zusammen mit ihm und mit meiner Frau die glücklichsten Monate meines Lebens. Und ich konnte hoffen, dass ich wieder ganz gesund werde.» Denn selbst wenn er wisse, dass es nicht wahrscheinlich sei, hoffe er dennoch jeden Tag auf ein Wunder. Und er sei jeden Tag dankbar dafür, dass seine Frau und sein Sohn gesund sind.

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