Nie wird Daniel N. jene Nacht vor knapp 15 Jahren vergessen. Verzweifelt irrte er durch die Strassen. Sein Herz raste, wirre Gedanken jagten durch seinen Kopf. Er hatte soeben sein Todesjahr erfahren.

Damals liess sich Daniel zweimal wöchentlich von einer Geistheilerin behandeln. Sie hatte ihm Genesung von seinem Rückenleiden versprochen, gegen das die Schulmedizin machtlos war: Morbus Bechterew. Die Ärzte konnten ihm nicht sagen, ob sein Rücken in zehn Jahren teilweise oder ganz steif sein werde.

Daniel war die Geistheilerin von Anfang an unsympathisch. Aber da sie ihm von einem angesehenen Homöopathen empfohlen worden war, vertraute er ihr.

Nicht nur seinen Rücken könne sie heilen, versprach die Therapeutin, auch die Hörfähigkeit seines rechten Ohrs werde sie wiederherstellen. «Es ist etwas Psychosomatisches. Sie haben als Kind sehr gelitten, wenn sich Ihre Eltern stritten. Deshalb hat sich das Ohr geschlossen.»

Daniel müsse nur fest an seine Heilung glauben, dann werde sich sein Ohr wieder öffnen, sagte die Heilerin. Sein Fall sei aber kompliziert und verlange nach «viel Heilenergie». «Wenn Sie fünf Jahre lang zweimal wöchentlich zu mir kommen, werden Sie geheilt sein.»

«Heute kommt mir das alles abstrus vor. Ich bin kein Esoteriker, der alles glaubt, was mir Heiler weismachen wollen», sagt der 34-jährige Bankangestellte. Aber mit 20 habe er es einfach nicht akzeptieren können, mit einer fortschreitenden Krankheit zu leben. «Du hast das Gefühl, ein Recht auf einen gesunden Körper zu haben. Und wenn die Schulmedizin dir nicht helfen kann, dann versuchst du eben alles, was Hilfe verspricht.»

Daniel probierte die ganze Palette alternativer Heiltechniken durch von Fussreflexzonenmassage über Akupunktur und Farbtherapie bis hin zur Reinkarnationstherapie. «Ich nahm das alles nicht wirklich todernst», betont er, «vieles fand ich einfach spannend.»

Bis zu jenem folgenschweren Abend bei der Geistheilerin. Nach etwas Smalltalk eröffnete ihm die Therapeutin plötzlich, dass sie nicht nur sein Rücken- und sein Ohrenleiden heilen, sondern auch seine Zukunft voraussagen könne. «Ich sehe Ihr ganzes Leben vor mir bis zu Ihrer Todesstunde.» Daniel konnte nicht widerstehen, er wollte es genau wissen. «63 Jahre alt werden Sie sein, wenn Sie von hier gehen», antwortete die Heilerin.

63, 63, 63 die Zahl hämmerte in Daniels Kopf, als er durch die Nacht nach Hause irrte. Er hatte Angst, zugleich war er wütend. Er fühlte sich manipuliert nicht mehr frei, über sein Leben entscheiden zu können. Erschöpft und durcheinander strandete er in den frühen Morgenstunden bei einem Freund.

«Haarsträubende» Storys

Immer mehr Menschen kehren der Schulmedizin den Rücken und suchen ihr Glück bei alternativen Heilmethoden. Laut einer Umfrage unter 1500 Personen hat schon jeder zweite Einwohner der Schweiz eine alternative oder esoterische Therapie ausprobiert. Experten schätzen, dass sich allein in Deutschland und in der Schweiz jährlich rund fünf Millionen Menschen von Handauflegern, Fernheilern und anderen spirituellen Therapeuten behandeln lassen (siehe Beobachter Nr. 13/2000).

Selbst Schulmediziner wenden inzwischen immer häufiger alternative Heilmethoden an. In Grossbritannien und in den USA werden grenzwissenschaftliche Forschungsprojekte staatlich gefördert. Auch in der Schweiz sind alternative Heilmethoden im Aufwind. So läuft derzeit an der Basler Universitäts-Frauenklinik ein Forschungsprojekt, das an über 30 Patientinnen die Wirkung des Geistheilens bei Kinderlosigkeit untersucht.

Für Laien ist es jedoch schwierig, unseriöse Heiler zu erkennen. «Insbesondere die Geistheilerszene bietet vielen Scharlatanen Unterschlupf», sagt Paul Schneider, Geschäftsleiter des Schweizerischen Verbands für natürliches Heilen (SVNH). «Wir hören immer wieder haarsträubende Geschichten.» Der Verband akzeptiert in seinen Reihen nur Therapeuten, die den Aufnahmekriterien standhalten, und führt regelmässig Kontrollen durch. Die rund 300 registrierten Mitglieder praktizieren nach einem sehr strengen Kodex: Genesungsversprechen und die Aufforderung, schulmedizinische Behandlungen abzubrechen, sind SVNH-Therapeuten untersagt. Die Honorare dürfen 130 Franken pro Stunde nicht überschreiten, und es darf keine Vorauszahlung verlangt werden.

Schneider warnt vor allem vor Fernheilern, die in Kleininseraten werben. «Es gibt Heiler, die jährlich eine halbe Million Franken für Anzeigen ausgeben.» Rechne man aus, wie viele Leute dafür behandelt werden müssten, sei klar, dass sich der Akt des Fernheilens meist darauf beschränke, «die Hunderternötchen aus den Kuverts der Kunden zu ziehen».

Doch auch auf offener Strasse gehen Wunderheiler immer dreister auf Kundenfang. Annemarie B. etwa wurde auf dem Markt in Aarau übers Ohr gehauen. «Der Himmel hat Sie mir über den Weg geschickt», wurde sie von einer dunkelhaarigen Frau angesprochen. «Es gibt jemanden, der Sie mit schwarzer Magie negativ zu beeinflussen versucht!» Sie sei Hellseherin und würde ihr gern helfen, da sie sehe, dass Annemarie unter dem negativen Einfluss leide, sagte die Frau in gebrochenem Deutsch. Dann drückte sie ihr eine Wurzel in die Hand. «Tragen Sie dieses Mittel stets bei sich, so sind Sie sicher vor den Einflüssen der schwarzen Magie.»

Die Angesprochene kam ins Schleudern. Die Wahrsagerin hatte sie an einem wunden Punkt getroffen. Annemarie B. ist in einer Sekte aufgewachsen. Seit ihrem Ausstieg hat sie das Gefühl, es läge ein Fluch auf ihr. Die Hellseherin steckte ihr eine Visitenkarte zu und sagte, das «Mittel» koste normalerweise 300 Franken. «Aber weil ich sehe, dass Sie nicht reich sind und ein gutes Herz haben, mache ich für Sie den halben Preis.» Annemarie B. liess sich auf den Handel ein.

Zu Hause wurde ihr bewusst, dass sie einer Betrügerin auf den Leim gekrochen war. Sie schickte der Wahrsagerin die Wurzel zurück mit der Bemerkung, sie solle die 150 Franken einem wohltätigen Zweck zukommen lassen. «Falls nicht, bringt Ihnen dieses Geld Unglück!»