Beobachter: Heute leiden rund 13 Prozent der Bevölkerung in der Schweiz an Heuschnupfen, 1920 war es erst ein Prozent. Warum nehmen Allergien zu?

Charlotte Braun-Fahrländer: Man weiss es nicht genau. Die Faktoren sind vielfältig. Da es aber grosse nationale Unterschiede gibt, muss der Lebensstil einen Einfluss haben. Wir leben heute vermehrt in Kleinfamilien und kommen weniger mit verschiedenen Bakterien und Viren in Berührung.

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Beobachter: Fördern wir mit unserem täglichen Kampf gegen die Keime die Allergieerkrankungen?

Braun-Fahrländer: Die so genannte Hygienehypothese beruht auf dieser Annahme. Sie geht auf eine Beobachtung zurück, die vor zehn Jahren gemacht worden ist: Je mehr Geschwister ein Kind hat, desto weniger oft erkrankt es an Allergien. Das brachte die Wissenschaftler auf die zündende Idee, dass Allergien etwas mit dem mikrobiellen Umfeld der Kinder zu tun haben könnten. Grössere Geschwister bringen diverse Bakterien und Viren aus dem Kindergarten nach Hause. Ein Kind mit Geschwistern kommt so mit mehr Mikroben in Kontakt als ein Einzelkind. Es ist deshalb häufiger erkältet, aber sein Immunsystem ist dauernd beschäftigt mit der Infektabwehr und entwickelt so keine Allergien.

Beobachter: Sie leiten verschiedene Studien über Bauernkinder. Was ist speziell am bäuerlichen Umfeld?

Braun-Fahrländer: Einem Schularzt aus Grabs SG fiel auf, dass Bauernkinder weniger an Allergien leiden. Unsere Untersuchungen bestätigten dies: Bauernkinder haben deutlich weniger Asthma und Heuschnupfen als Gleichaltrige, die im selben Dorf zur Schule gehen, und Stadtkinder. Das brachte uns auf die Idee, dass das natürliche mikrobielle Umfeld im Stall einen positiven Einfluss auf das Immunsystem haben muss, indem es eine Allergieentwicklung verhindert. Wir untersuchen, inwiefern der Zeitpunkt und das Ausmass des Stallkontakts eine Rolle spielen.

Beobachter: Was ist das Überraschende an den Ergebnissen?

Braun-Fahrländer: Die Untersuchung bei Bauernkindern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zeigt klar: Das bäuerliche Umfeld bietet einen Schutzfaktor gegen Allergien. Je intensiver ein Kind Kontakt zu den Stalltieren hat, desto geringer ist das Risiko, dass es später an einer Allergie erkrankt.

Beobachter: Wie erklären Sie sich das?

Braun-Fahrländer: In den Ausscheidungen von Stalltieren tummeln sich unzählige Bakterien und Viren. Die Ställe werden wohl geputzt, aber sie werden nicht sterilisiert. Es finden sich dort viele verschiedene Mikroben. Ist ein Kind oft im Stall, kann sich sein heranreifendes Immunsystem mit diesen Keimen auseinander setzen. Das Immunsystem wird trainiert und entwickelt später keine allergische Überreaktion gegen harmlose Pollen oder Milbenkot.

Beobachter: Sollen Eltern ihre Kleinkinder also in den Stall bringen?

Braun-Fahrländer: Die Erkenntnisse lassen sich wohl nicht so einfach umsetzen. Aber es ist klar, dass sofort über Konsequenzen spekuliert wird. Für uns gibt diese Studie den Hinweis, dass generell ein natürliches Umfeld wichtig ist.

Beobachter: Sollen Kinder generell mehr im Dreck spielen?

Braun-Fahrländer: In einer ländlichen Umgebung sicher. Steht der Sandkasten aber neben einer Schnellstrasse und ist deshalb mit Blei belastet, empfehle ich es nicht. Die Verallgemeinerung, Dreck sei gesund, stimmt nicht. Es ist schwer, von Auge zu unterscheiden, welcher Dreck natürlich und welcher nicht mehr so gut verträglich ist. Es gibt keine einfachen Rezepte.

Beobachter: Wird die Hygienehypothese auch kritisiert?

Braun-Fahrländer: Dass Hygiene ein Faktor bei der Allergieentwicklung ist, ist kaum bestritten. Offen ist, wie Hygiene zu bewerten ist. Viele Leute weisen zu Recht darauf hin, dass man nicht vor Angst, eine Allergie zu bekommen, die Hygiene vergessen sollte. Es ist aber wichtig, das richtige Mass zu finden.

Beobachter: Welche Rolle spielt denn das Putzen?

Braun-Fahrländer: Der Anteil, den das Putzen an dieser Entwicklung hat, ist schwer abzuschätzen. Es spielt sicher eine Rolle, dass man Bakterien und Viren als Feinde betrachtet und möglichst hygienisch leben möchte. Es ist falsch, den ganzen Haushalt zu desinfizieren. Wir müssen uns mit Mikroben auseinander setzen auch mit den krank machenden.

Beobachter: Finnischen Kindern werden versuchsweise Bakterien ins Essen gemischt. Ist das sinnvoll?

Braun-Fahrländer: Man kann das Immunsystem auch übers Essen stimulieren.

Eine weitere Lösung ist ein Impfstoff mit harmlosen Bakterien. Die Ideen gehen in diverse Richtungen. Die wichtige Botschaft unserer Studien lautet, dass der Kontakt zum bäuerlichen Umfeld gesund ist. Nahrungsmittelzusätze oder Impfungen sind mehr medizinische Anwendungen.

Beobachter: Wir bekämpfen den Dreck und schwächen uns damit derart, dass Impfungen mit Bakterien nötig werden. Haben wir die Dimensionen verloren?

Braun-Fahrländer: Es ist klar, dass wir uns in unserer Entwicklung von den natürlichen Grundlagen entfernen. Man muss aber sagen, dass der hygienische Lebensstil auch Vorteile bringt. Der Rückgang der Kindersterblichkeit und der Tuberkulose ist im Wesentlichen ein Erfolg der Hygiene. Der berühmte goldene Mittelweg ist auch bei der Hygiene der einzig richtige.

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