Colette Andrée war 28, als sie einem befreundeten Arzt ihre Beschwerden schilderte: Sie hatte oft starke Kopfschmerzen – so stark, dass sie ihren Arbeitsplatz und Sitzungen verlassen musste, um zu erbrechen, und dann mit getönten Brillengläsern zurückkehrte, weil sie das Licht nicht ertrug. «Du hast Migräne», sagte er ihr. Als junge, leistungsorientierte Frau wollte sie es zunächst nicht wahrhaben: «Migräne galt damals als typische Frauenausrede und nicht als Krankheit», erinnert sich Andrée.

Als sie ihrer Mutter davon erzählte, verriet ihr diese, dass bereits ihre Grossmutter an Migräne gelitten hatte. «Die ganze Familie hatte das vertuscht. Meine Mutter wusste als Kind nur, dass die Grossmutter eine grosse Schachtel Medikamente im Nachttischli hatte. Und irgendwann starb sie an Nierenversagen – wahrscheinlich als Folge der vielen Schmerzmittel, die sie ihr Leben lang genommen hatte.»

Der befreundete Arzt sagte Andrée, sie habe zwei Möglichkeiten: mit Selbstmedikation weitermachen wie bisher – auf die Gefahr hin, dass sie am Ende jeden Tag Kopfweh habe. Oder der Sache auf den Grund gehen, ihre Kraftquellen und die Auslöser der Migräneanfälle herausfinden und aktiv etwas dagegen unternehmen. Sie entschied sich für Letzteres.

Ihre Migräne hatte erst mit dem Einstieg ins Berufsleben eingesetzt: Nach Studienabschluss trat sie 1986 eine Stelle in einem Pharmaunternehmen an, wo sie sich als einzige Frau unter Männern behaupten musste. Hatte sie früher immer viel Sport gemacht, blieb ihr dafür keine Zeit mehr, auch regelmässig essen lag häufig nicht drin. «Ich habe nur noch gearbeitet, und oftmals hatten wir auch während der Mittagszeit Sitzungen», sagt Andrée. Vor Arbeitgeber und Kollegen hielt sie ihre Migräne geheim: «Ich hätte sonst meinen Job verloren. Damals war der Konsens: Wer Migräne hat, ist nicht stressresistent, fehlt oft, ist wehleidig und kann keine leitende Position einnehmen.»

Migräne im Wandel der Zeit

Als studierte Chemikerin und Apothekerin ging sie ihr Problem wissenschaftlich an, informierte sich, analysierte die Situation. Sie begann wieder Sport zu machen, nahm an Sitzungen eine Banane mit, wenn sie wusste, dass diese bis in den Mittag hinein dauern würden, achtete darauf, genügend Wasser zu trinken. Sie begann mit Yoga und damit, in sich hineinzuhören. Und merkte, dass diese Zeitoasen ihr halfen und die Migräne sie weniger oft heimsuchte. Aber es sollte vier Jahre dauern, bis sie ihre Migräne im Griff hatte.

Im Gespräch mit Kopfschmerzspezialisten und Neurologen merkte sie auch, dass viel Wissen über Migräne noch fehlte und dass das vorhandene Wissen die Betroffenen oftmals nicht erreichte. Im Jahr 1988 hatte die Internationale Kopfschmerzgesellschaft (IHS) erstmals eine Definition der verschiedenen Kopfschmerzen publiziert und darin auch verschiedene Formen von Migräne beschrieben. Erst 1994 kamen die ersten spezifischen Migränemedikamente auf den Markt, die auch Colette Andrée ausprobierte. Aber wie weit verbreitet Migräne ist, war damals noch nicht klar.

Andrée vertiefte ihr Wissen zu Kopfschmerzerkrankungen beim damaligen «Migränepapst» Hansruedi Isler, der an der Neurologischen Universitätsklinik Zürich die erste Kopfwehsprechstunde eingerichtet hatte, und unterstützte ihn 1995 bei der Gründung der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft.

Da es damals nur wenige gute wissenschaftliche Informationen zu Kopfschmerzerkrankungen gab, initiierte sie Eurolight, das erste europaweite Projekt, in dem die Verbreitung von Kopfschmerzerkrankungen, die Behandlungssituation, der Einfluss auf die Lebensqualität sowie die sozioökonomischen Kosten dieser Erkrankungen wissenschaftlich untersucht wurden. Über 10'000 Leute in zehn europäischen Ländern wurden dabei befragt, und im Rahmen dieses Projekts schloss Andrée auch eine Doktorarbeit in Neurowissenschaften ab. Um das Wissen auch anderen Betroffenen zugänglich zu machen, gründete sie 2018 die Patientenorganisation Migraine Action, wo sie bis heute Geschäftsführerin ist und auch regelmässig das Kopfwehtelefon entgegennimmt, um Betroffene zu beraten (siehe Infobox).

Korrekte Diagnose unabdingbar

«Heute ist Migräne als neurologische Krankheit von der Weltgesundheitsorganisation anerkannt», sagt Andrée. Und es sind sehr viele davon betroffen: Weltweit leidet rund eine Milliarde Menschen an Migräne. In der Schweiz sind über eine Million betroffen. Doch viele nehmen trotz erheblicher Beschwerden keine ärztliche Hilfe in Anspruch: In der Eurolight-Studie lag die Zahl der Betroffenen, die wegen Migräne einen Hausarzt oder eine Spezialärztin aufsuchten, unter 30 Prozent. Und nur etwa ein Drittel derjenigen, die Hilfe suchten, erhielten eine korrekte Diagnose und wurden nach evidenzbasierten Behandlungsrichtlinien behandelt. «Dabei wäre die Diagnose eigentlich einfach», sagt Andrée. «Und es gibt heute gute Therapien. Aber Betroffene gut zu informieren und auf ihrem langen Weg zu begleiten, braucht viel Zeit. Zeit, die Ärztinnen und Ärzte oftmals nicht haben.»

Daher bietet die Patientenorganisation Migraine Action auf ihrer Internetseite umfangreiche Informationen zum Thema sowie einen Schnelltest, der hilft, Migräne von anderen Kopfschmerzen abzugrenzen (siehe Infobox). «So kann man sich gut auf den Arztbesuch vorbereiten – oder danach Fragen klären, die noch offen sind.»

Migräniker haben eine Hypersensibilität des Gehirns beim Auslösen von Schmerz. Welche Reize einen Migräneanfall auslösen, ist sehr unterschiedlich: So können etwa das Auslassen eines Mittagessens, ein Wetterwechsel oder Schwankungen des Östrogenspiegels im weiblichen Zyklus einen Anfall auslösen. Bei manchen kann auch die Entspannung am Wochenende ein Trigger sein. «Da hilft es vielleicht, wie gewohnt um 7 Uhr aufzustehen und einen Kaffee zu trinken», sagt Andrée.

Verallgemeinerungen bringen nichts

Auch Nahrungsmittel können Trigger sein – nicht selten sind Heisshunger auf Süsses oder Kohlenhydrate aber nicht Auslöser, sondern erste Anzeichen der Migräne: Das Gehirn hat ein Energiedefizit und verlangt nach einer Extraportion Energie. Andrée ärgert sich deshalb über verallgemeinernde Nahrungsmittelverbote: «Da wird den Leuten so viel verboten, am Ende dürfen sie gar nichts mehr geniessen! Keinen Käse, keine Schoggi, keinen Weizen, kein Glutamat und keinen Wein. Aber jede und jeder hat ein spezielles Gehirn, das auf manche Reize reagiert und auf andere nicht. Da muss man selbst Detektiv spielen und herausfinden: Was sind meine Auslöser? Was sind erste Anzeichen? Wo kann ich Energie tanken? Welche vorbeugenden Therapien verringern die Häufigkeit und Intensität? Man kann das lernen! Und es lohnt sich, denn man hat diese Krankheit ja 20 bis 30 Jahre lang.»

Colette Andrée selbst hat ihre Krankheit heute im Griff. Anstatt sechs bis acht Mal pro Monat hat sie heute nur noch etwa einmal im Monat oder alle zwei Monate Migräne. Und dann wartet sie nicht, bis der Schmerz unerträglich ist, sondern nimmt gleich zu Beginn ein für sie funktionierendes Akutmittel. Der Schmerz verschwindet zwar nicht ganz, aber bereits zwei Stunden nach Medikamenteneinnahme hat sie nur noch einen leichten Kopfschmerz. «Der bleibt dann zwei bis drei Tage, aber damit kann ich gut funktionieren.»

Teufelskreis der Selbstmedikation

Weil sie bis heute regelmässig das Kopfwehtelefon entgegennimmt, weiss Andrée, dass viele Migräniker Angst haben, Medikamente zu nehmen: Viele nehmen zu tiefe Dosen und wiederholen das immer wieder, weil es nicht richtig nützt. Am Ende haben sie dann viel mehr Medikamente eingeworfen und den Schmerz damit trotzdem nicht in den Griff bekommen. «Dabei hätten sie ihn vielleicht stoppen können, wenn sie gleich zu Beginn eine hohe Dosis des Medikaments genommen hätten.»

Wer mehr als zehn Tage im Monat an Kopfschmerzen leidet, sollte die Selbstmedikation stoppen und eine Ärztin oder einen Arzt aufsuchen, sagt Andrée. Denn auch nicht rezeptpflichtige Schmerzmittel können auf Dauer nicht nur den Magen, die Leber oder die Niere schädigen, sondern bei häufiger Einnahme mit der Zeit selbst Kopfschmerzen auslösen. Laut Andrée leiden in der Schweiz rund 100'000 Menschen fast täglich an solchen medikamenteninduzierten Kopfschmerzen. «Viele denken: ‹Wegen Kopfschmerzen gehe ich nicht zum Arzt.› Oder: ‹Man kann mir ja sowieso nicht helfen.› Das stimmt nicht. Man muss sich nur Hilfe suchen und Geduld haben, bis man seinen individuellen Weg mit einer guten Lebensqualität gefunden hat.»

Ihrer Erfahrung nach wissen viele Migräniker nicht, dass es heute Medikamente gibt, die spezifisch gegen Migräne wirken, manche davon mit nur sehr wenigen Nebenwirkungen. Die wichtigsten Akutmittel sind Triptane, sie imitieren den körpereigenen Botenstoff Serotonin und wirken nicht nur gegen den Schmerz, sondern auch gegen Begleiterscheinungen wie Übelkeit und Erbrechen. «Einem Grossteil der Migräniker hilft eines dieser spezifischen Medikamente. Manchmal dauert es einfach ein bisschen, bis man das richtige gefunden hat.» Die migränespezifischen Medikamente sind rezeptpflichtig. Aber seit Juli 2021 dürfen sie auch Apotheken in kleinen Dosierungen an alle Betroffenen abgeben, die eine ärztlich diagnostizierte Migräne haben.

«Es gibt kein Wundermittel, das bei allen hilft», sagt Andrée. «Aber es gibt fast immer Möglichkeiten, die Lebensqualität zu verbessern – mit und ohne Medikamente.» Migräniker haben ein äusserst sensibles Gehirn. Gemäss Studien können sie Informationen besonders schnell verarbeiten und schneiden beim Entwickeln von Ideen und Lösungen für Probleme besser ab als Menschen ohne Migräne. «Wenn sie ihr Gehirn gut unterstützen, können sie damit ein spannendes Leben haben.»

Migräne erkennen im Schnelltest

Jeder Patient und jede Kopfwehform ist anders. Es werden heute über 250 verschiedene Arten von Kopfschmerzen unterschieden. Am häufigsten sind Migräne und Spannungstyp-Kopfschmerzen. Zusammen machen sie etwa 92 Prozent aller Kopfschmerzen aus. Um die beiden Formen einfach voneinander zu unterscheiden, erstellte die Patientenorganisation Migraine Action den folgenden Schnelltest:

Sie leiden unter Migräne, wenn Sie bereits mindestens fünf Attacken mit folgenden Symptomen erlebt haben:

  • Ihr Kopfweh dauert ohne Medikamenteneinnahme zwischen 4 und 72 Stunden am Stück (bei Erwachsenen) beziehungsweise 2 bis 48 Stunden (bei Kindern).

Mindestens zwei der folgenden Merkmale treffen auf Ihren Kopfschmerz zu:

  • Er ist einseitig.
  • Er ist pulsierend.
  • Er verhindert oder behindert Ihre üblichen Aktivitäten erheblich.
  • Er verstärkt sich durch körperliche Anstrengung.

Sie kennen mindestens eine der folgenden Beschwerden:

  • Übelkeit (eventuell Erbrechen)
  • Licht- und Lärmempfindlichkeit

Hilfe:

  • Für eine sichere Diagnose wenden Sie sich bitte an Ihre Ärztin oder Ihren Arzt.
  • Mehr Infos auf der Website von Migraine Action: www.migraineaction.ch