«Manchmal explodiere ich innerlich fast. Und wenn die Spannung unerträglich wird, kann ich nicht mehr anders, dann kratze ich mich kaputt.» Stefan ist ein junger Mann wie alle andern – wäre da nicht seine chronische Hautkrankheit. «Eigentlich juckts mich immer irgendwo.» Stefan weiss, dass Kratzen das Schlimmste ist, was ein Neurodermiker tun kann. Kratzen, Jucken und wieder Kratzen gehören zum Teufelskreis, der diese entzündliche Hautkrankheit ausmacht.

Damit die Haut wieder einigermassen zur Ruhe kommt, hilft bei akuten Schüben nur noch eines: Kortison – aus der Tube oder per Spritze. Wie die meisten Betroffenen hat auch Stefan eine Art Hassliebe zu dieser «Chemiekeule» entwickelt, die zwar vorübergehend Linderung verschafft, aber wegen ihrer Nebenwirkungen nicht unbegrenzt eingesetzt werden kann.

Der 23-jährige Student reagiert auch innerlich allergisch – und zwar auf die zahllosen Kosmetik- und Wellnesswerbungen. Für ihn ist es eben nicht so einfach, sich «in seiner Haut rundum wohl zu fühlen». Wie sollte er auch: «Meine Haut und ich sind im ständigen Krieg miteinander. Und das, seit ich mich erinnern kann.» Ein «Krieg», der auch für andere sichtbar ist, wie Stefan oft zu spüren bekommt. «Manchmal würde ich mir am liebsten ein Schild umhängen: ‹Neurodermitis ist nicht ansteckend!› oder so etwas.» Dass er keine Freundin hat, schreibt er nur zum Teil seiner Krankheit zu. «Natürlich habe ich Hemmungen. Und Berührungen und Nähe machen mir Mühe, klar. Aber viele meiner Kollegen haben auch keine Beziehung – auch solche mit Pfirsichhaut.»

Stefan ist damit nicht allein. Das weiss er spätestens, seit er sich einer Selbsthilfegruppe angeschlossen hat. In den Industrieländern leiden schätzungsweise vier Prozent der Bevölkerung an Neurodermitis – in der Schweiz sind das 280'000 Menschen. Und wie bei anderen allergischen Krankheiten, zum Beispiel Heuschnupfen, nimmt die Zahl der Betroffenen stark zu. Gemäss Studien waren vor 40 Jahren drei Prozent der Säuglinge davon betroffen, heute leidet bereits jedes zehnte Baby daran.

Neurodermitis ist eine qualvolle Krankheit und eine, die viele Namen trägt: endogenes Ekzem, atopische Dermatitis, Säuglingsekzem oder Milchschorf. Die Haut von Neurodermikern ist chronisch oder schubweise entzündet, trocken bis schuppig und ruft oft einen teuflischen Juckreiz hervor.

Meist bricht die Krankheit bereits im Säuglingsalter oder in der Kindheit aus und lässt nicht nur die Betroffenen leiden, sondern die ganze Familie. Für die Eltern bedeutet das oft eine extreme psychische Belastung. Hilflos zusehen zu müssen, wie sich ein Baby am ganzen Körper blutig kratzt, sorgt oft für geschockte und überforderte Mütter und Väter.

«Wir wissen leider noch nicht genau, warum immer mehr Kinder davon betroffen sind», sagt Brunello Wüthrich, leitender Arzt der Allergiestation der Dermatologischen Klinik des Universitätsspitals Zürich. Zwar ist bekannt, dass eine Erbanlage Voraussetzung für den Ausbruch der Krankheit ist. Für die starke Zunahme aber reicht die genetische Erklärung nicht aus.

Trotz weltweiter Forschung gilt die Krankheit nach wie vor als unheilbar. Therapieansätze gibt es viele – Medikamente, Salben, Bäder –, aber weder schulmedizinische noch komplementäre Behandlungen haben bislang einen Durchbruch gebracht. Im besten Fall können sie die Attacken lindern oder die ekzemfreie Zeit etwas verlängern. Brunello Wüthrich: «Sicher spielt im Kindesalter oft die Ernährung eine Rolle und später Allergene der Luft, wie Hausstaubmilben, Tierhaare oder Blütenstaub.»

Rätselhaft und unberechenbar

Aber Neurodermitis ist nicht nur eine rätselhafte Krankheit, sondern auch eine unberechenbare. Sie kann ein Leben lang als Erbanlage «stumm» bleiben oder ganz plötzlich ausbrechen. Bei etwa 40 Prozent der Säuglinge wächst sie sich bis zur Pubertät aus. Allerdings leidet etwa ein Drittel der Neurodermiker irgendwann in ihrem Leben an einer anderen Allergieform, meist Heuschnupfen oder Asthma.

Ob Neurodermitis auch von der Psyche her verursacht werden kann, wird zurzeit heftig diskutiert. Sicher ist, dass Stresssituationen einen Schub auslösen können und dass Betroffene gut daran tun, ihre individuelle psychologische Bewältigungsstrategie zu entwickeln. Auch Entspannungstechniken sind hilfreich, denn Neurodermitis ist nicht nur eine haut-, sondern auch eine nervenaufreibende Krankheit. Dass aber Ekzeme allein der «nach aussen tretende Hilfeschrei einer leidenden Seele» ist, wie das einige Psychologen glauben, bezweifelt Brunello Wüthrich.

Was ist Ursache und was ist Wirkung? Wüthrich sieht es so: «Es ist nur verständlich, dass mit der Zeit die Psyche leidet, wenn ein Patient seit dem Säuglingsalter von unsäglichem Juckreiz und damit oft von Schlafstörungen betroffen ist.»

Schmutz zur Stärkung der Abwehr

In jüngster Zeit scheint sich in der Allergieforschung eine verblüffende Erkenntnis abzuzeichnen: Allergologen glauben, dass immer mehr westliche Menschen unter allergischen Attacken leiden, weil wir zu hygienisch leben und unserem Immunsystem Viren, Bakterien und Würmer fehlen, um sich im täglichen Kampf gegen sie zu stärken. Die Forschung kommt damit auf eine alte Volksweisheit zurück: «Ein bisschen Dreck ist gesund.» Erste Versuche, Allergikern die «Schmutzbakterie» Mycobacterium vaccae unter die Haut zu spritzen, haben eindeutig positive Resultate gezeigt. Um trainiert und stark zu sein, braucht unser Körper offenbar Schmutz, quasi als Sparringpartner.

Die «Hygiene-Hypothese», wie sie von Medizinern bereits genannt wird, würde auch erklären, warum allergische Krankheiten ausgerechnet bei den wohl behüteten Kindern der hygienischen Industriestaaten derart rasant angestiegen sind. Die Schweiz, Deutschland, Frankreich und Japan verzeichnen einen hohen Anstieg der allergischen Erkrankungen, während Länder wie Indonesien, Albanien oder Indien kaum davon betroffen sind. Aus hiesigen Studien ist zudem bekannt, dass Kinder, die in ländlicher Umgebung aufwachsen, viel weniger häufig Allergiker sind als Stadtkinder.

Für Stefan ist diese Erkenntnis im Moment noch unbrauchbar. Für die Zukunft könnte das aber bedeuten, dass eine neue Generation von Medikamenten auf den Markt kommt, die eine echte Alternative zu Kortison sind. Leichte Besserung hat er mittlerweile durch Licht- und Bestrahlungstherapien erzielt, die er kürzlich begonnen hat. «Genauso wichtig aber ist, dass ich versuche, mit meiner Haut Frieden zu schliessen – und zwar auch dann, wenn sie wieder mal rebelliert. Das habe ich langsam begriffen.»