In den Klinikräumen im obersten Stockwerk des Zurzacher Parkhotels gibt es keine bettlägerigen Pflegefälle und keine sterbenskranken Patienten. Die Ärzte tragen keine weissen Kittel und sind kaum von den Patienten zu unterscheiden. Denn das Einzige, was den meisten Patienten fehlt, ist Schlaf. Die Klinik für Schlafmedizin (KSM) ist eine der wenigen medizinischen Einrichtungen in Europa, die sich ausschliesslich mit der Behandlung und der Erforschung von Schlafproblemen beschäftigt.

«Die Schlafmedizin ist eine sehr junge Wissenschaft», erklärt Klinikleiter Jürg Schwander. «Als ich 1972 mein Staatsexamen gemacht habe, hatte ich keine Ahnung vom Thema Schlaf. Wie wichtig das Thema eigentlich ist, entdecken wir erst jetzt.» Die Nachfrage gibt Schwander Recht. Rund 30000 Konsultationen verzeichnet die KSM jährlich. Obwohl mittlerweile 18 schlafmedizinische Zentren in der Schweiz existieren, kommen allein in der KSM jedes Jahr rund 1000 neue Patienten hinzu. Jede vierte Person hierzulande benötigt gelegentlich Einschlafhilfen und jede zehnte leidet laut Schwander unter Schlafstörungen, die behandlungsbedürftig sind Tendenz steigend. Gemäss neueren Studien hat sich die Zahl von Menschen mit Schlafstörungen vor allem von jungen in den letzten zehn Jahren verdreifacht.

80 verschiedene Diagnosen

Die Betroffenen sind oft ratlos und verzweifelt, probieren jahrelang alles aus, vom Hausmittelchen bis zur Schlaftablette, meistens erfolglos. Zumal die individuelle Ursache einer Schlafstörung nur schwer zu finden ist. Zurzeit unterscheiden die Mediziner etwa 80 verschiedene Diagnosen von Schlafstörungen. «Hier in Zurzach behandeln wir sämtliche Formen», so Schwander. «Bei uns arbeiten Psychologen und Psychologinnen, Psychiater, ein Neurologe und ein amerikanischer Schlafspezialist. Ich selber bin Internist.»

Am Anfang jeder erfolgreichen Behandlung steht die Diagnose. Bevor die Patienten zur stationären Abklärung nach Zurzach kommen, müssen sie 14 Tage lang ein Schlaftagebuch führen. Doch die Wahrnehmung der Betroffenen allein reicht laut Jürg Schwander längst nicht aus, um eine Schlafstörung sicher festzustellen: «Bei vielen Patienten gibt es einen Widerspruch zwischen der eigenen Wahrnehmung und der tatsächlichen Schlafqualität.» Den Patienten wird deshalb ein Aktivitäts-Messgerät, ein so genannter Aktometer, ums Handgelenk gelegt. Dieses Messgerät von der Grösse einer Armbanduhr zeichnet Tag und Nacht die Bewegungen auf. So sehen die Schlafmediziner ziemlich genau, wann und wie lange der Patient bewegungslos, also im Tiefschlaf, verharrt. Allerdings lässt sich mit Hilfe des Aktometers nur feststellen, ob tatsächlich eine Schlafstörung vorliegt, nicht aber, was für eine Störung. Und dies ist die entscheidende Information für die Mediziner.

«Bleibt die Ursache unklar, lassen wir die Betroffenen in der Klinik unter Beobachtung schlafen», erklärt Schwander und präsentiert das Herzstück des Zurzacher Schlaflabors: den Überwachungsraum, vollgestopft mit Computern und Videomonitoren. Hier laufen die Daten der schlafenden Patienten im Schlaflabor zusammen. Mit Infrarotkameras und der Messung von Hirnströmen, Augenbewegungen, Muskelspannung, Herzfrequenz und Atmung rekonstruieren die Mediziner, in welchem Schlafstadium sich der überwachte Patient zu welchem Zeitpunkt befunden hat. Das komplizierte Überwachungsverfahren ist für die Diagnose von Schlafstörungen unabdingbar. «Denn», so Schwander, «der Schlaf ist ein komplizierter und aktiver Prozess.»

Erfolgreiche Behandlung

Obwohl die Schlafmedizin noch in den Kinderschuhen steckt, arbeiten die Zurzacher Schlafmediziner sehr erfolgreich. Jürg Schwander beziffert die Erfolgsquote auf über 80 Prozent. Auch der 66-jährige Aarauer Autoverkäufer Hans Peter Scherrer ist seine Schlafprobleme heute los. Acht Jahre lang litt er unter starkem Schnarchen. Jedoch: «Eigentlich hat vor allem meine Frau gelitten, ich habe ja nicht so viel gemerkt.» Doch mit der Zeit wurde auch für ihn der Leidensdruck immer grösser. «Ich konnte zehn Stunden schlafen und war nach einer Stunde trotzdem wieder todmüde.» Als er beim Autofahren immer wieder für Sekunden wegdämmerte, suchte er Hilfe in der Schlafklinik. Die Resultate aus dem Schlaflabor waren alarmierend: Scherrer litt unter einer Schlafapnoe. Durch erschlaffte Muskeln im Rachen verschliessen sich seine Atemwege im Schlaf. Die Folge ist wiederholter Atemstillstand. «Pro Stunde hat meine Atmung 61 Mal ausgesetzt, bis zu 45 Sekunden lang.» Die Messung der Sauerstoffsättigung im Blut ergab, dass Hans Peter Scherrer nachts nur knapp die Hälfte der benötigten Sauerstoffversorgung bekam. «Wäre ich damals nicht nach Zurzach gegangen, wäre ich heute vielleicht tot.»

Das ist keine Übertreibung: Gerade die Schlafapnoe, eine der häufigsten Schlafstörungen, kann gefährliche Folgen haben. Neben einem erhöhten Unfallrisiko durch Konzentrationsschwächen und den berüchtigten Sekundenschlaf am Autosteuer belastet die Unterversorgung mit Sauerstoff den Kreislauf und erhöht das Herzinfarkt- und das Schlaganfallrisiko. Heute schläft Hans Peter Scherrer wieder gut dank einer Überdruckmaske, die im Schlaf die Atemwege offen hält. Anfänglich war ihm der Gedanke, mit einer solchen Maske zu schlafen, fast unerträglich. «Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt. Meine Sauerstoffversorgung ist auch im Schlaf normal, und nach sechs Stunden Schlaf bin ich topfit.»

Die Schlafapnoe ist zwar sehr schwer wiegend, aber relativ einfach festzustellen und gut behandelbar. Schwieriger wird es bei den Schlafstörungen, die keine physische Ursache haben. Über deren gesundheitliche Folgen ist noch wenig bekannt. Trotzdem ist der Leidensdruck für die Betroffenen fast unerträglich. «Mit der Zeit sinkt die körperliche und die geistige Belastbarkeit nachweislich», erklärt Hanna Meier-Rossi, Psychologin und Schlaftherapeutin in der KSM. «Das kann sowohl zu physischen Krankheiten als auch zu psychischen Leiden wie Angstzuständen und Depressionen führen.»

Starker sozialer Druck

Umgekehrt sind Schlafstörungen oft ein Hinweis auf solch behandlungsbedürftige Leiden. Oder ein Hinweis auf unerträgliche Lebensumstände. «Immer mehr Menschen aus allen sozialen Schichten sind immer stärkerem Druck ausgesetzt», so Meier-Rossi. Wenn berufliche oder private Sorgen den Schlaf rauben, helfen langfristig weder Pillen noch Atemgeräte. «Die Betroffenen müssen lernen, mit ihren Problemen zu leben oder sie zu lösen.» Das kann unter Umständen auch heissen, den Job oder die Wohnung zu wechseln. Bei anderen Personen genügt es oft schon, Störfaktoren wie Licht oder Lärm zu beseitigen, abends auf schwere Mahlzeiten zu verzichten oder einen regelmässigen Lebensrhythmus zu finden. Eines der Hauptprobleme ist laut Meier-Rossi, dass bei vielen Menschen mehrere Ursachen zusammenkommen. Entsprechend schwierig ist dann auch die Therapie.

Dass Fatma Toprak unter Schlafstörungen leidet, ist selbst für Laien offenkundig: Die dunklen Ränder unter den Augen und der erschöpfte Gesichtsausdruck sind deutliche Zeichen. Doch das Ausmass ihres Leidens lässt sich nur erahnen. Tatsächlich wird die 42-Jährige seit acht Jahren von Schlaflosigkeit geplagt. In den letzten zwei Jahren hat sie keine Nacht durchgeschlafen. «Ich konnte vier Schlaftabletten schlucken und trotzdem nicht schlafen.» Vom Hausarzt bekam sie immer neue Schlafmittel verschrieben, aber keines hat gewirkt. Als die Montagearbeiterin am Ende ihrer Kräfte war und plötzlich Gedächtnislücken hatte, suchte sie Hilfe bei den Zurzacher Spezialisten.

Ein Lächeln huscht über das abgekämpfte Gesicht, als Fatma Toprak ihren ersten Eindruck vom Klinikalltag schildert. «Zuerst habe ich mich gefragt, was das bringen soll. Man trainiert, geht spät ins Bett und steht früh auf.» Auch das geheimnisvolle Ritual mit dem Schlaftagebuch und den Übernachtungen im Schlaflabor fand sie wenig vertrauenerweckend. Aber sie war so verzweifelt, dass sie sich an jeden Strohhalm klammerte. Die Infrarotkamera im Schlaflabor zeigte schliesslich, was Fatma Toprak jahrelang den Schlaf geraubt hatte: Sie leidet unter Bein-Unruhe, dem so genannten Restless-Legs-Syndrom. Dabei wecken sich die Betroffenen durch heftige, reflexartige Beinbewegungen selber ein verbreitetes Leiden, das heute mit Medikamenten gut behandelbar ist.

Fatma Toprak schüttelt den Kopf darüber, dass sie jahrelang vergeblich gegen die Schlaflosigkeit gekämpft hat. «Jetzt kann ich endlich Hoffnung schöpfen. Ich habe letzte Nacht das erste Mal seit zwei Jahren fünf Stunden durchgeschlafen ohne Schlafmittel.»