Auf den ersten Blick war es eine schlechte Nachricht: Der Corona-Impfstoff, der am nächsten an der Zulassung war, geriet im September in die Schlagzeilen. Mindestens ein Patient hatte eine Entzündung des Rückenmarks entwickelt. Der britisch-schwedische Pharmakonzern AstraZeneca musste eine Testreihe unterbrechen.

«Doch für mich war es ein gutes Zeichen, dass trotz grossen öffentlichen Drucks die Mechanismen funktionieren, die Studienteilnehmer schützen», sagt Carlos A. Guzmán, Leiter der Abteilung Vakzinologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. Nachdem unabhängige Fachleute den Fall begutachtet hatten, konnte die Studie wiederaufgenommen werden.

Inzwischen werden weltweit 189 Corona-Vakzine getestet, heisst es bei der Weltgesundheitsorganisation WHO – 40 davon bereits am Menschen.

Trick mit einem Virustaxi

Der Fall der unterbrochenen Studie zeigt aber auch das Dilemma der Impfstoffentwicklung. Rückenmarksentzündungen treten nur sehr selten nach viralen oder bakteriellen Infektionen auf – und zwar, wenn das Immunsystem anormal aktiviert wird, zum Beispiel bei Menschen, die an Multipler Sklerose Multiple Sklerose Angriff auf die Nerven erkrankt sind.

«Es ist durchaus möglich, dass die Komplikation durch die Impfung ausgelöst wurde», sagt Christian Münz, Professor für Virale Immunbiologie an der Uni Zürich. «Denn der AstraZeneca-Impfstoff verwendet ein Lebendvirus, das Entzündungsreaktionen hervorrufen kann.»

Forscher der Universität Oxford hatten Gene von Sars-CoV-2 in einen Vektor eingebaut, ein Virustaxi – in diesem Fall ein Adenovirus, das nur bei Schimpansen, nicht aber beim Menschen vorkommt. Dieses Taxi kann sich zwar nicht vermehren, aber es dringt leicht in menschliche Zellen ein – danach werden die Sars-CoV-2-Proteine dort in grosser Zahl hergestellt. Das ist einer echten Infektion sehr ähnlich – und entsprechend natürlich reagiert das Immunsystem Abwehrkräfte Was stärkt unser Immunsystem? .

«Es gilt, die richtige Balance zu finden – der Impfstoff muss wirksam, aber so harmlos wie möglich sein.»

Christian Münz, Immunologe

«Die meisten heutigen Impfungen rufen eine starke Antikörperantwort hervor. Aber Virusinfektionen bekämpft unser Körper am Anfang vor allem mit Zellen», sagt Münz. «Das Oxford-Vakzin bewirkt genau diese zelluläre Antwort gegen Sars-CoV-2 und zusätzlich eine Antikörper-Antwort.» Die Ähnlichkeit mit einer echten Infektion kann auch Komplikationen hervorrufen, wie ebenjene Rückenmarksentzündung bei den Tests des AstraZeneca-Vakzins.

«Ein Impfstoff, der keinerlei Nebenwirkungen verursacht, aktiviert auch das Immunsystem nicht», sagt Münz. «Es gilt, die richtige Balance zu finden – der Impfstoff muss wirksam, aber so harmlos wie möglich sein.»

Auch wenn eine Entzündung des Rückenmarks meist behandelbar ist, werden Zulassungsstellen wie Swissmedic eine solche häufige Nebenwirkung bei einer Impfung nicht dulden. «Die Anzahl von Versuchspersonen, die diesen Impfstoff bekommen haben, ist aber noch zu klein», sagt Carlos A. Guzmán. «Wir müssen jetzt die Ergebnisse der unterschiedlichen Phase-III-Studien abwarten, bevor wir wissen, wie sicher und effektiv die verschiedenen Impfstoffkandidaten sind.»

Wie funktionieren RNA-Impfstoffe?

Fast genauso weit fortgeschritten wie das AstraZeneca-Vakzin sind einige RNA-Impfstoffe. Sie funktionieren ähnlich wie Vektor-Impfstoffe, indem Sars-CoV-2-Gene in den Menschen injiziert und erst dort in Virusproteine übersetzt werden. Gegen sie richtet sich das Immunsystem dann. Von einem solchen Vakzin der US-Firma Moderna, ebenfalls in der PhaseIII der klinischen Testung, hat der Bund 4,5 Millionen Dosen bestellt.

«Der Vorteil der RNA-Impfstoffe ist, dass die RNA allein schon die Abwehr aktiviert», sagt der Zürcher Virologe Christian Münz. «Allerdings kommt die RNA schlechter in die Zellen als beim Vektor-Impfstoff. So fällt die zelluläre Immunantwort etwas schwächer aus.»

Unbekannte Risiken wegen neuer Verfahren

Die bisherigen Erkenntnisse zu Vektor- und RNA-Impfstoffen seien positiv, sagt Claire-Anne Siegrist, Professorin für Vakzinologie an der Uni Genf. «Beide sind besser darin, zelluläre Immunantworten zu verursachen als traditionelle Vakzine», sagt die Medizinerin, die zehn Jahre lang Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (EKIF) war. Aber: «Beide Typen beruhen auf neuen Verfahren, die unbekannte Risiken haben können und eine genaue Sicherheitsnachverfolgung benötigen – bis mindestens sechs Monate nach der Impfung.»

Siegrist weist auf ein weiteres Problem der neuartigen Impfstoffe hin. «Sie werden wahrscheinlich besser darin sein, Komplikationen bei Hochrisikopatienten zu verhindern als die Übertragung des Virus.» Mit anderen Worten: Wer geimpft ist, könnte trotzdem infiziert werden und das Virus weitergeben – würde selber aber nicht schwer krank. Denn die Erreger infizieren zunächst Zellen, erst dann werden durch die Impfung erwiesenermassen gebildete T-Gedächtniszellen aktiviert, die die Infektion bekämpften.

Nahezu alle herkömmlichen Impfstoffe setzen dagegen auf Antikörper. Im besten Fall verhindern sie schon das Eindringen des Virus in die menschlichen Zellen. «Die meisten dieser altbekannten Impfstoffe wirken jedoch schlecht bei älteren Menschen, Übergewichtigen und Diabetikern», sagt Christian Münz. «Impfstoffe, die auch eine zelluläre Immunantwort hervorrufen, sind wahrscheinlich effektiver bei den Risikogruppen.»

Infografik: Die vier Wellen der Verteidigung

Infografik Wellen der Immunantwort

Unser Immunsystem kennt vier zeitlich versetzte Abwehrmechanismen, um ein Virus zu bekämpfen.

Quelle: Anne Seeger und Andrea Klaiber
Normales Leben? Nicht so bald

Die Genfer Impfstoffspezialistin Claire-Anne Siegrist warnt vor zu hohen Erwartungen. Auch wenn schon im Frühjahr ein Impfstoff zur Verfügung steht, werde das noch keine Rückkehr zum normalen Leben ermöglichen. «Wenn alles gut geht, beginnen wir dann mit den Impfungen für Hochrisikopersonen – aber Social Distancing, Masken und Handhygiene müssen fortgeführt werden, auch von den Geimpften.»

Ein Vakzin, das die Übertragung des Virus durch Geimpfte zulässt, könnte aber die Pandemie eindämmen, wenn sich grosse Teile der Bevölkerung impfen liessen. «So ein Impfstoff würde die Infektion zumindest verkürzen und die Krankheitssymptome abschwächen», sagt Münz. «Damit würde der Zeitraum, in dem ein Infizierter ansteckend ist, wahrscheinlich so weit verkürzt, dass die Pandemie gestoppt werden könnte.»

Bislang habe allerdings noch kein einziger Impfstoff zugleich Sicherheit und Wirksamkeit in einer Phase-III-Studie bewiesen. «Aktuell kann niemand eine seriöse Prognose darüber machen, wann der erste Impfstoff zugelassen werden kann», sagt deshalb Danièle Bersier von Swissmedic. Das ist der Grund, warum der Bund bei Vorverträgen über Impfstofflieferungen auf mehrere Impfstofftypen setzen muss.

«Nicht alle Impfstoffe sind in den gleichen Bevölkerungsgruppen gleich wirksam», sagt Carlos A. Guzmán. «Ein bestimmtes Vakzin könnte etwa besonders für ältere Menschen geeignet sein.»

Verhandlungen mit mehreren Pharmafirmen laufen laut Bundesamt für Gesundheit. Um welche Impfstoffe man sich bemüht, wird nicht kommuniziert. «Wir müssen uns die Zeit nehmen, alle notwendigen Informationen zu sammeln, um zu zeigen, dass ein Vakzin nicht nur schützt, sondern auch sicher ist», sagt Claire-Anne Siegrist. «Das wird Zeit brauchen.»

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Chantal Hebeisen, Redaktorin
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