Allein schon der Gedanke, das gefüllte Glas auf nüchternen Magen zu leeren, löst bei vielen Ubelkeit aus. Doch Ekel vor dem eigenen Urin ist fehl am Platz, versichern Naturheilpraktikerinnen: Urin enthalte viele wertvolle körpereigene Substanzen und sei daher als Heilmittel geradezu ideal.

Urin im Einsatz gegen Krankheiten – die Idee ist so alt wie die Menschheit. In Indien empfahlen die Yogis schon vor über 4000 Jahren, täglich einen Becher des gelben Safts zu trinken: Dadurch lasse sich das Leben verlängern. In China hielten sich vornehme Damen ihren Teint durch Massage mit Eigenurin frisch und straff. Auch der griechische Arzt Hippokrates schwörte auf Urin – als Medikament gegen Schlangenbisse und Tollwut. Und im Mittelalter verkauften Apotheker eingedickten Kuhharn als Allheilmittel.

Heute wird das Trinken von Eigenurin wieder propagiert – entweder als mehrwöchige Kur oder sogar lebenslang als krankheitsvorbeugende Massnahme. Der eigene Urin soll eine entgiftende Wirkung haben, den Organismus positiv «umstimmen» und den Stoffwechsel ankurbeln, behaupten viele Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker.

Eingesetzt wird der gelbe «Zaubertrank» vor allem bei chronischen Leiden wie zum Beispiel Kopfschmerzen oder Müdigkeit. Manche Naturärzte spritzen ihren Patientinnen und Patienten auch Eigenurin in die Muskeln. Dadurch sollen die Abwehrkräfte des Körpers angeregt werden.

Auch der äusserlichen Anwendung von Urin sind kaum Grenzen gesetzt. Es gibt Urininhalationen, Urinwickel, Urinsalben – ja sogar Augen- und Nasentropfen aus Urin. Die Liste der Erkrankungen, bei denen Eigenharn helfen soll, ist ellenlang und führt von A wie Angstzustände bis Z wie Zahnweh.

Über die Zweckmässigkeit von Urintherapien wird kontrovers diskutiert. Vor allem Schulmediziner betrachten Urin als Abfallprodukt des Körpers. Denn die Harnproduktion in den Nieren dient hauptsächlich der Entgiftung. Aus dem Blut werden diejenigen Stoffe herausgefiltert, die der Organismus nicht mehr braucht. Wenn die Nierenfunktion und damit die Urinproduktion versagt, führt dies zu einer Selbstvergiftung und – ohne Dialysetherapie – in kürzester Zeit zum Tod.

Harn hilft bei Hautkrankheiten
Urin sei nicht bloss ein Abfallprodukt, meinen dagegen die Befürworter von Urintherapien: Urin enthalte viele nützliche Stoffe, die man besser einem «Recycling» zuführe, statt sie einfach in der Toilette zu entsorgen.
Tatsächlich besteht der menschliche Urin aus über 300 verschiedenen Substanzen. Neben Wasser sind dies hauptsächlich Harnstoff und Mineralien wie Natrium, Kalium und Chlorid. Viele Hautpflegeprodukte und Medikamente gegen Hautkrankheiten enthalten Harnstoff (Urea):

Er hält die Haut feucht, stillt Juckreiz und fördert die Ablösung von Verhornungen und Schuppen. Warum also eine teure Hautcreme mit Harnstoff kaufen, wenn ein Urinumschlag oder das Einmassieren von Urin die gleiche Wirkung haben?

Doch Vorsicht: Ob man sich für eine Harnstoffsalbe aus der Apotheke oder einen hausgemachten Urinwickel entscheidet, ist nicht nur Geschmackssache. Die Zusammensetzung des Harns schwankt im Verlauf des Tages sehr stark. Wie viel oder wie wenig Harnstoff der Urin enthält, ist kaum festzustellen. Bei der Behandlung mit Eigenurin besteht also die Gefahr einer Über- oder Unterdosierung.

Ein weiteres Problem der Eigenurintherapie ist die Hygiene. Ausgeschiedener Urin bildet einen idealen Nährboden für Bakterien und Viren. Wer eine Urin-Trinkkur machen will, sollte deshalb nur ganz frischen Urin zu sich nehmen. Steht der Harn eine Weile lang herum oder wird er später für Wickel oder die Zubereitung von Heilmitteln verwendet, sollte er zuerst sterilisiert werden.

Manche Heilpraktiker lehnen allerdings eine Sterilisation ab. Sie glauben, dass die im Urin enthaltenen Keime zusätzlich das Immunsystem anregen. Aus schulmedizinischer Sicht ist es hingegen unsinnig und sogar gefährlich, mit unsterilisiertem Urin heilen zu wollen.

Vorsicht bei Entzündungen!
Schulmediziner warnen auch vor Urintherapien bei bestimmten Entzündungskrankheiten. Wenn man zum Beispiel an einer Blasen- oder einer Nierenbeckenentzündung oder an einer Geschlechtskrankheit leidet, sollte man den eigenen Harn auf keinen Fall einnehmen.

Auch wer Medikamente schlucken muss, sollte sich vor einer geplanten Urin-Trinkkur beim Arzt erkundigen, ob eine solche Behandlung sinnvoll ist. Denn viele Abbauprodukte von Arzneimitteln werden mit dem Urin ausgeschieden: Wenn man diese Abfallstoffe mit dem Harn wieder zu sich nimmt, können sich die Wirkstoffe im Körper gefährlich anhäufen. Für gesunde Leute ist eine Eigenurin-Trinkkur jedoch ungefährlich.