Der Begriff klingt bedrohlich: Antigen-Erbsünde. Was dahintersteckt: Wenn jemand gegen eine Virusvariante geimpft wird und später mit einer neuen Variante in Kontakt kommt, reagiert das Immunsystem vornehmlich mit Antikörpern, mit der es bereits die ursprüngliche Variante bekämpft hat.

Dieses Argument wird jetzt in impfkritischen Kreisen oft wiederholt: dass die Immunantwort wegen der Impfung festgefahren sei auf die altbekannten Antikörper – aber nicht zur Abwehr neuer Varianten tauge.

Doch jetzt zeigt sich immer deutlicher, dass die Antigen-Erbsünde sogar bei der Bekämpfung der Pandemie hilft. Sie ist der Grund, warum die Impfstoffe, die gegen die ursprüngliche Version von Sars-CoV-2 gerichtet sind, bis heute wirken.

«Der Begriff der Antigen-Erbsünde wurde in den Fünfzigerjahren geprägt, als das Verständnis des Immunsystems Abwehrkräfte Was stärkt unser Immunsystem? noch weit schlechter war als heute», sagt Onur Boyman, Direktor der Klinik für Immunologie am Unispital Zürich. Damals hatte man beobachtet, dass der erste Grippevirusstamm, mit dem ein Mensch infiziert wird, die Antikörper-Antwort auch gegen spätere Influenza-Varianten prägt.

«Theoretisch kann eine solche Prägung positive und negative Auswirkungen haben», sagt Boyman. «Bei den Covid-Impfungen haben wir allerdings bisher keine nachteiligen Folgen beobachtet. Im Gegenteil, die ursprünglichen Impfstoffe wirken ja bislang gegen die Sars-CoV-2-Varianten.»

Wie ein Wettrennen

Warum ist das so? «Wenn wir uns mit einem Erreger auseinandersetzen, den wir durch vorherige Infektion oder Impfung schon kennen, dann reagiert der Körper rasch mit der Bildung von Antikörpern und der Aktivierung von T-Zellen. Das ist letztlich wie ein Wettrennen ‹Immunsystem gegen Viren›», erklärt Boyman. Dabei sei es eben günstiger für den Körper, wenn er bereits über passende Antikörper verfüge, auch wenn diese nicht immer perfekt passten. Von Grund auf neue Antikörper zu bilden, dauere länger. «Sogar wenn Antikörper den Eintritt eines Virus in eine Zelle nicht verhindern, können sie ihn dennoch verlangsamen und den Erreger für Fresszellen markieren.»

Erste Studien mit Affen zeigen: Sogar Antikörper, die den Eintritt des Virus in die Zelle verhindern, nehmen durch eine dritte Impfung mit dem Impfstoff von Moderna genauso stark zu wie mit einem speziellen Omikron-Impfstoff.

Die Erklärung: Als Gedächtnisreaktion werden aus der Menge der vorhandenen Antikörper durch die Omikron-Impfung jene passenden vermehrt, die es schon gibt; das erhöht die Chance, das Rennen gegen das Virus zu gewinnen. Der Booster mit dem hergebrachten Impfstoff vermehrt diese Antikörper genauso gut. Es läuft darauf hinaus, dass die wirksamen Antikörper an Stellen binden, die sich beim Virus nicht verändern – weil sie unbedingt so bewahrt werden müssen, damit der Erreger noch in die Zelle hereinkommen kann.

Nicht zuwarten mit dem Booster

«Aber selbst wenn nur wenige Prozent der nach dem Booster gebildeten Antikörper noch binden, reicht das wegen der hohen Antikörperspiegel aus, um das Virus noch einigermassen zu neutralisieren», sagt Christian Münz, Professor für virale Immunbiologie an der Universität Zürich. Allerdings schütze der Booster nur noch zu 50 Prozent vor einer Ansteckung.

«Aus dem Blutserum bleibt durch die Omikron-Mutationen nur ein kleiner Anteil von Antikörpern übrig, der die Invasion der Viren noch verhindern kann», sagt Münz. «Und deren Konzentration nimmt mit der Zeit ab, sodass symptomatische Infektionen mit grösserem Abstand zur Booster-Impfung wieder zunehmen.»

Was bedeutet das für das Impfen? «Mit einem Booster auf einen möglicherweise angepassten Impfstoff zu warten, empfehle ich nicht. Die mRNA-Impfstoffe schützen gut vor schweren Covid-19-Verläufen Zahlen aus Spitälern Vor allem ungeimpfte Covid-Patienten auf Intensivstationen », sagt der Immunologe Onur Boyman.

Sie verringern das Risiko für eine Einweisung ins Spital um rund 90 Prozent, selbst wenn die Impfung mehr als drei Monate zurückliegt. «Diesen Schutz bringen wohl zum Teil die zytotoxischen T-Zellen», sagt Christian Münz. Sie erkennen spezifisch Körperzellen, die mit Sars-CoV-2 infiziert sind, und töten sie, um die Neuproduktion von Viren zu unterbinden. Da jeder Mensch unterschiedliche T-Zellen hat, die verschiedene Fragmente von Proteinen erkennen, ist dieser Arm des Immunsystems relativ unempfindlich gegenüber Mutationen.

«Eine vierte Impfung erachte ich im Moment nur für immunsupprimierte und ältere Menschen als nötig.»

Onur Boyman, Direktor der Klinik für Immunologie am Unispital Zürich

Israel, das die vierte Impfung bereits eingeleitet hat, empfiehlt den Booster für alle – aber wohl eher, um die Omikron-Welle zu brechen. «Israel setzt die vierte Dosis wohl ein, weil man dort mit der dritten Impfung sehr früh dran war und die Impfquote auch nicht extrem hoch ist», sagt Christian Münz. Es gehe wohl eher darum, die Winterwelle abzubremsen, als um den individuellen Schutz von dreifach Geimpften.

Eine aktuelle Studie zeigt, dass eine vierte Impfung zwar die Antikörperspiegel wieder hob; aber nur auf das Niveau, auf dem sie schon nach der dritten Impfung waren. Die T-Zell-Immunantwort verbesserte sich nicht. Zudem erkrankte der gleiche Prozentsatz der Menschen an Sars-CoV-2, gleichgültig, ob dreifach oder vierfach geimpft. «Mit drei Impfungen ist man gut geschützt», sagt deshalb Onur Boyman. «Eine vierte Impfung erachte ich im Moment nur für immunsupprimierte und ältere Menschen als notwendig.» Für sie dürfte eine vierte Dosis oft sinnvoll sein.

Auch darauf deuten Informationen aus Israel hin. Laut Gesundheitsministerium halbierte eine vierte Impfung bei über 60-Jährigen das Risiko einer Infektion, für eine schwere Erkrankung sei sie nochmals um zwei Drittel gesunken – im Vergleich mit den dreifach Geimpften.

Aber gilt das alles auch noch für sehr stark veränderte Varianten? «Falls sich das Virus sehr stark verändert, könnten Gedächtnis-Antikörper gar nicht mehr passen», sagt Onur Boyman. «Aber dann würde eben eine neue Immunantwort anspringen.» Das wäre der Zeitpunkt, zu dem eine Vorimmunität gegen Ansteckung kaum noch wirken könnte. Ob Sars-CoV-2 wirklich jemals so stark mutieren wird, ist unklar. «Spätestens dann bräuchten wir einen angepassten Impfstoff», sagt Boyman.

Die drohende Rückkehr «alter» Varianten

Wenn man mit den zugelassenen Impfstoffen weiter impfen könnte, hätte das viele Vorteile. Die Hersteller Anspruch auf Transparenz Datenschützer für Veröffentlichung der Impfstoff-Verträge müssten ihre Produktionslinien nicht umstellen, die «alten» Produkte könnten weiter benutzt werden – und es würde sich nicht die Frage stellen, ob ein «neuer» Impfstoff gegen «alte» Varianten noch helfe. Denn diese – etwa Delta – könnten sich in Nischen halten und eines Tages zurückkehren.

Aktuelle Studien deuten jedenfalls darauf hin, dass eine Infektion allein mit Omikron die Ungeimpften wohl nicht gegen die Delta-Variante schützt. «In einem neuen Impfstoff würde man deshalb am besten die ursprüngliche plus die Omikron-Variante einschliessen», sagt Christian Münz. «Ob aber die Omikron-Impfstoffe wirksamer sind gegen Omikron als die bereits zugelassenen, müssen weitere Studien erst zeigen.»

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