Am Ast eines schon fast abgestorbenen Baums spriessen neue Triebe - dank Camptosar; so suggeriert es die Werbung in einem Fachblatt für Krebsärzte. Darunter zeigt eine Grafik, dass Patienten mit Mastdarmkrebs dank diesem Medikament im Schnitt fünf Monate länger leben. Ein paar Seiten weiter preist die Pharmafirma Roche ihr Avastin an. Es soll neu auch bei fortgeschrittenem Lungenkrebs helfen. Auch hier zeigt die Grafik - neben einer langen Liste von Nebenwirkungen - eine verlängerte Überlebensdauer: 12,3 Monate statt 10,3 Monaten.
Doch diese zwei Monate haben ihren Preis: Eine Dosis des als revolutionär geltenden Krebsmittels kostet Fr. 2'275.95, eine komplette Chemotherapie kommt auf rund 53'000 Franken zu stehen.
Christian Sauter schüttelt ob solcher Annoncen nur den Kopf: «Das meiste, was heute im Bereich von fortgeschrittenem Lungen- oder Darmkrebs medikamentös gemacht wird, ist Unfug.» Der emeritierte Professor für klinische Onkologie am Unispital Zürich blickt auf 35 Jahre Erfahrung mit Krebsmedikamenten zurück. «Es hat Fortschritte gegeben, gewisse Krebsarten sind heute heilbar, viele Nebenwirkungen schwächer. Aber bei Lungen- oder Darmkrebs sind wir nicht viel weiter.»
Der Winterthurer Krebsspezialist Christian Marti hält die Anpreisungen der Pharmafirmen («bahnbrechend») für übertrieben. Zum Beispiel bei der Frühbehandlung von Brustkrebspatientinnen mit Herceptin: «Für 19 von 20 Patientinnen, die damit behandelt werden, kann derzeit kein Einfluss auf die Überlebenschance nachgewiesen werden», sagt er. Bezahlen müssen aber alle, und zwar nicht zu knapp: Eine Ampulle kostet Fr. 1'290.20. Die zweijährige präventive Nachsorge bei Brustkrebspatientinnen summiert sich so auf 120'000 Franken - unabhängig davon, ob das Herceptin wirkt oder nicht.
«Bei Krebsmedikamenten sind Kosten von 200'000 Franken pro gewonnenes Lebensjahr keine Seltenheit», rechnet Peter Marbet vor. Der Sprecher des Krankenkassenverbands Santésuisse sagt: «Die neuen Medikamente haben geringe therapeutische Vorteile, kosten aber ein Vielfaches mehr als die Vorgängergeneration. Wir rechnen im Schnitt mit 5'000 Franken pro Monat und Krebspatient.»
Für den einzelnen Betroffenen mag jede Woche geschenkten Lebens wertvoll sein - die Gesellschaft als Ganzes stellt dies aber vor ein grosses ethisches Problem: Wie viel ist uns die Verlängerung der Lebenszeit wert? Können wir uns das leisten? Wer zieht die Grenze und sagt: Patientin X erhält das Medikament Y nicht?
Wohin die Entwicklung führt, zeigt sich beispielhaft in den Krankenhäusern. Am Kantonsspital St. Gallen belegt die Onkologieabteilung rund fünf Prozent aller Betten, verbraucht aber 30 Prozent der gesamten Medikamentenkosten. Am Kantonsspital Luzern hat sich in den letzten Jahren der Anteil der Krebspräparate am Gesamt-Medikamentenverbrauch von unter zehn Prozent auf über 26 Prozent vervielfacht.
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Verdächtig hohe Gewinnmargen
Profiteure sind die Pharmafirmen, allen voran die Schweizer Firma Roche. Sie erwirtschaftete im vergangenen Jahr einen Rekordgewinn von 9,2 Milliarden Franken. «Dies zeigt doch ganz offensichtlich, dass die Preise für die Medikamente zu hoch sind», sagt Onkologe Sauter. Fürwahr: Die Betriebsgewinnmarge von Roche liegt bei 31,7 Prozent - und ist damit dreimal so hoch wie bei anderen Grossunternehmen.
Jedenfalls lassen sich die hohen Preise nicht mit entsprechend hohen Forschungskosten rechtfertigen. «Diese werden zu einem guten Teil von der Allgemeinheit bezahlt; etwa die Forschung an den Universitäten oder auch klinische Studien an Spitälern», sagt Thomas Cerny, Präsident der Krebsliga Schweiz. Seiner Meinung nach sind die hohen Preise intransparent und «die Folge eines pervertierten Systems».
Den Goldregen bringt vor allem der Mechanismus der Indikationserweiterung. «Die Pharmafirmen beantragen die Zulassung für ein neues Medikament zuerst bloss für wenige Krankheitsbilder», beobachtet Krebsspezialist Marti. Weil dadurch die Fallzahlen tief liegen, lässt sich ein hoher Preis rechtfertigen. «Kurz nach der Zulassung wird dann aber das Anwendungsgebiet, mit behördlicher Zustimmung, ausgeweitet. Das lässt den Umsatz stark anwachsen - der Stückpreis bleibt aber unverändert hoch», so Marti.
Möglich macht das eine im Jahr 2005 getroffene Abmachung zwischen der Pharmaindustrie und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG): Sieben lange Jahre nach der Zulassung bleibt der Preis eines neuen Medikaments unverändert hoch.
Zum Beispiel Herceptin: Ursprünglich für die Behandlung von Patientinnen mit metastasierendem Brustkrebs zugelassen, wird es unterdessen auch verschrieben, um allfälligen Metastasen vorzubeugen. So hat sich der Umsatz innert kurzer Zeit versiebenfacht. Heute ist Herceptin laut BAG das umsatzstärkste Krebsmedikament der Schweiz. Für Herstellerin Roche ist es «normal», dass ein Präparat allmählich für immer mehr Indikationen zugelassen wird, «weil zunächst nur beschränkte Informationen vorliegen und es unethisch wäre, Patienten, die bereits dann vom Medikament profitieren könnten, dieses zu verwehren», sagt Sprecherin Martina Rupp.
Kasse machen die Pharmakonzerne aber bereits, bevor zusätzliche Indikationen bewilligt sind. Verspricht ein Präparat nämlich Besserung, müssen es die Krankenkassen selbst dann bezahlen, wenn es für diese Krankheit noch nicht zugelassen ist. Voraussetzung ist, dass es um eine lebensbedrohliche Krankheit geht und Behandlungsalternativen fehlen. «Wir stellen eine starke Zunahme von solchen Gesuchen fest», sagt Santésuisse-Sprecher Marbet. Um die gröbsten Missbräuche zu verhindern, erlässt die Gesellschaft der Vertrauensärzte in den nächsten Wochen Regeln, in welchen Fällen dies die Kassen bezahlen sollen. Die Pharmafirmen haben ein Interesse an diesem so genannten Off-Label-Use: Er ist ein wichtiger Schritt zur offiziellen Indikationserweiterung.
Dazu kommt: Fast immer werden die neuen Medikamente zusätzlich zu den herkömmlichen verschrieben. So war es auch bei Alraune Weisskopf. Vor einem Jahr musste sich die 64-Jährige einen bösartigen Tumor aus der rechten Brust entfernen lassen, bereits waren 13 Lymphknoten befallen. Nach dreimonatiger Bestrahlung begann sie eine Chemotherapie, dazu kamen Herceptin-Infusionen. Als ihr Onkologe vor ein paar Wochen zusätzlich Caelyx verschrieb, wollte die Krankenkasse nicht mehr bezahlen. «Als mein Arzt argumentierte, dass er damit mein belastetes Herz schonen und Haarausfall vermeiden wollte, lenkte die Kasse ein», so Weisskopf. Das Caelyx kostet 10'000 Franken. «Ich hätte das auch aus dem eigenen Sack bezahlt, schliesslich geht es um mein Überleben.»
Diesen Lebenswillen nutzen die Pharmafirmen zu ihren Gunsten aus. Der Preis eines neuen Präparats richte sich in erster Linie nach dem «Nutzen» für die Patienten, argumentieren sie. Laut Roche-Sprecherin Martina Rupp sind verbesserte Lebensqualität, ein verlängertes Leben oder «im besten Fall die Heilungschancen» für die Preisfestsetzung relevant. Darm- und Brustkrebspatientinnen etwa könnten Xeloda als Tablette schlucken, was eine intravenöse Chemotherapie im Spital ersetze.
Ob ein Medikament von der Krankenkasse bezahlt und zu welchem Preis es in der Schweiz verkauft wird, bestimmt das BAG. Es vergleicht den von der Pharmafirma behaupteten Nutzen mit den verlangten Kosten. «Als Massstab gilt der Gewinn von Lebensjahren in guter Lebensqualität», sagt BAG-Sprecher Daniel Dauwalder. Zudem darf der Preis nicht höher liegen als in fünf europäischen Vergleichsländern.
«Schwelle zur Zweiklassenmedizin»
Fachleute kritisieren diese Rolle des Bundes als zu passiv: «Das BAG müsste bei den Pharmafirmen mehr Druck aufsetzen», findet der Luzerner Spitalapotheker Xaver Schorno. Und Peter Marbet von Santésuisse kritisiert das Machtgefälle zwischen BAG und Pharmaindustrie: «Es wird wohl um den Preis gefeilscht, doch die Hersteller sind am längeren Hebel, sie können der Schweiz ihr Medikament einfach vorenthalten, wenn der Preis für sie nicht stimmt.»
Oder die Kranken müssen selbst in die Tasche greifen, wie ein Beispiel aus England zeigt. Die durchschnittliche Lebensverlängerung von knapp fünf Monaten bei Dickdarmkrebspatienten rechtfertige den hohen Preis von 41'500 Franken für Avastin nicht, urteilte die zuständige Behörde. Aus dem steuerfinanzierten Gesundheitssystem wird Avastin darum nicht bezahlt.
«Auch hierzulande sind wir an der Schwelle zur Zweiklassenmedizin», glaubt Krebsliga-Präsident Cerny. Die Kostenspirale dreht sich mit jedem neuen Krebsmedikament weiter - parallel dazu wächst der Druck, dass nicht mehr alles bezahlt wird. Krankenkassen und Krebsmediziner verlangen, dass das BAG die Medikamentenpreise regelmässig überprüft und bei einer Indikationserweiterung senkt. Und der St. Galler CVP-Ständerat Eugen David lanciert die Debatte auf der politischen Bühne. Im Dezember brachte er im Parlament einen Vorstoss widerstandslos durch, der vom Bundesrat «Massnahmen zur Preisdämpfung» bei den Krebsmedikamenten fordert. Die Landesregierung verspricht nun vage eine «umfassende Kosten-Nutzen-Betrachtung».
«Geld spielt keine Rolle»
Aber auch der einzelne Betroffene müsse kostenbewusster werden, fordert Gerd Nagel, der als Onkologe und ehemals Krebskranker beide Seiten kennt: «In einer Solidargesellschaft sind auch Patienten dafür verantwortlich, dass Kosten gesenkt werden».
Noch können die meisten Krebspatienten selber entscheiden, ob sie die neusten verfügbaren Therapien wollen oder nicht (wie etwa Silvia Gerber oder Urs Loosli, siehe Nebenartikel). «Jeder Patient macht seine eigene Kosten-Nutzen-Rechnung: Wie viele Nebenwirkungen nehme ich in Kauf, um etwas Lebenszeit zu gewinnen?», beobachtet der erfahrene Onkologiepfleger Hansruedi Stoll. «Geld spielt bei solchen Entscheiden keine Rolle. Das Ziel der medikamentösen Behandlung ist einzig, eine möglichst gute Lebensqualität zu erhalten.»
Noch möglichst lange bei der Familie leben, das ist das Ziel von Monika Müller (Name geändert). Als 40-Jährige erkrankte die vierfache Mutter an Brustkrebs. Sie entschied sich wegen der Nebenwirkungen bewusst gegen eine Hormontherapie. Erst als vier Jahre später Knochenmetastasen festgestellt wurden, begann sie damit. Doch sie will therapeutisch nicht das letzte Register ziehen: «Vielleicht würden mir neue Medikamente ein paar Monate Leben schenken, doch dann würde ich von Arzt zu Arzt rennen, die Krankheit würde mein Leben noch mehr dominieren», sagt sie. «Ich will nicht die ultimative Therapie, ich will eine optimale Lebensqualität. Und ich will in Würde sterben.»