Für Lisa V. bleibt das abendliche «Gute Nacht» ein frommer Wunsch. Die Altenbetreuerin aus Frauenfeld leidet seit vier Jahren unter chronischen Rückenschmerzen. Unzählige Operationen an Rücken und Schulter, verschiedene Therapien und langwierige, kräfteraubende Rehabilitationen sind seitem ihre Begleiter. Sie hat sich nicht unterkriegen lassen: «Das Leiden hat mich gefestigt – ich wurde zur Kämpferin.»

Mit den chronischen Schmerzen kam die Schlaflosigkeit. Nachts stundenlang wach liegen, sich von einer Seite auf die andere wälzen und dabei das Wegdämmern herbeisehnen, ist für Lisa V. Normalität. Sie weiss, dass mehr Schlaf nur möglich ist, wenn die Schmerzen nachlassen: «Drum setze ich mich aktiv mit ihnen auseinander.» In der Schweiz leben etwa eine Million Menschen, die unter chronischen Schmerzen leiden. Als häufigste Ursache gelten Rheuma und Arthritis, gefolgt von Bandscheibenproblemen. Viele der Betroffenen fürchten um den Arbeitsplatz, weil ihre Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist. Zudem fühlen sie sich nutzlos.

Schlafmangel verstärkt Schmerzen
«Dies führt häufig zu eigentlichen Existenzkrisen», sagt Christof Ammermann, Psychoanalytiker und Facharzt für Anästhesie, «die den Menschen buchstäblich den Schlaf rauben.» Oft wird damit ein Teufelskreis in Gang gesetzt: Da Schlafmangel das vegetative Nervensystem anregt, verstärkt sich das Schmerzempfinden. Schmerzen gelten dann als chronisch, wenn sie länger als drei Monate dauern. Wie aber entsteht Dauerschmerz? Ständige, starke Impulse verändern das Nervensystem und machen es überempfindlich. Auch leichte Reize wie Berührungen oder Wärme, die normalerweise nicht schmerzhaft sind, können in schlimmen Phasen als Schmerz empfunden werden. Das so genannte Schmerzgedächtnis hat sich vom Reiz losgelöst und wirkt auch ohne diesen: Betroffene werden oft als Simulanten abgestempelt. Sie quälen sich im Stillen. Angstzustände, Depression, hohe Reizbarkeit sind die Folgen. Gemäss einer Umfrage vom letzten Jahr denken etwa 200'000 chronisch Leidende oft an Selbstmord.

Hilfe und Unterstützung erhält Lisa V. vor allem von ihrer Familie. «Mein Mann und meine Tochter sind mir eine grosse Stütze», erzählt sie. Auch die Zusammenarbeit – wie sie es nennt – mit Ärzten und Kliniken bringt ihr viel: «Ich werde ernst genommen, was mir auf der Suche nach Ruhe und Ausgeglichenheit sehr hilft.»

Patienten wandern von Arzt zu Arzt
Das ist nicht selbstverständlich. Laut einer internationalen Studie über Schmerz liegt die Schweiz bezüglich Problembewusstsein unter dem europäischen Durchschnitt. Neun von zehn Schweizer Ärzte haben bei ihren Schmerzpatienten noch nie eine spezifische Schmerzerfassung durchgeführt. Und vier von zehn Patienten gaben an, ihr Arzt behandle zwar die Ursache der Krankheit, nicht aber den Schmerz und seine Folgen wie Schlafstörungen.

«Das Problem ist grösser als gemeinhin angenommen», sagt Ulrich W. Buettner, Chefarzt der neurologischen Klinik in Aarau und seit vielen Jahren im Vorstand der Schweizerischen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes: «Die Ausbildung der Ärzte ist tatsächlich ungenügend.» Eine eigenständige Weiterbildung in Schmerzdiagnostik und Schmerztherapie fehle in der medizinischen Grundausbildung, ebenso der entsprechende Fähigkeitsausweis. Dies hat auch finanzielle Folgen. «Schmerzpatienten wandern von Arzt zu Arzt», sagt der Gesundheitsökonom Willy Oggier. «Über ein Viertel der Betroffenen hat mehrere Medikamente ausprobiert und wieder abgesetzt. Das verursacht Kosten, die nicht sein müssten.»

Auch Lisa V. hat erfahren, wie schwierig es ist, «die Bedürfnisse und Unmöglichkeiten des schmerzgeplagten Körpers dem Alltag anzupassen». Derzeit kann sie mit Akupunktmassage die Schmerzen in Grenzen halten – schmerzfrei ist sie jedoch nie. Aber sie liegt nicht mehr nächtelang wach: «Seit ich das Leiden akzeptiere und den Alltag nach meinen Bedürfnissen leben kann, schlafe ich nachts bis zu vier Stunden am Stück.»