Sie war mitten im Wahlkampf als Zürcher Gemeinderatskandidatin, als Susi Gut zum ersten Mal einen leichten Schmerz in der Nase spürte. Im Taschentuch war Blut, in der Nasenhöhle eine kleine Wundkruste. Also kaufte Susi Gut eine Salbe und hoffte, dass es bald besser werden würde.

Es wurde nicht besser. Als sie einige Wochen später einen Arzt aufsuchte, meinte dieser nur, sie solle weiter Nasencreme einstreichen – so etwas brauche eben Zeit. Doch der Schmerz wurde stärker, das Nasenbluten immer schlimmer, und sie ging erneut zum Arzt. «Da ist nichts», meinte der. «Natürlich war da was, ich spürte es ja!», sagt Gut heute. Also ging sie zu einem anderen Arzt. «Das ist ein Ekzem. Das geht irgendwann weg.» Ging es nicht. «Das ist Ihr Alter, da hat jeder seine Wehwehchen», meinte der nächste. Nach einem halben Jahr hatte Gut über ein Dutzend Ärzte konsultiert. Alle waren sich einig: ein bisschen Salbe, und bald würde alles vergessen sein.

Verzweifelt geht sie zur Geistheilerin

Susi Gut gab sich nicht zufrieden. «Ich hatte starke Schmerzen, die sogar meinen Job beeinflussten.» Als sie eines Tages ihre Chefin – Gut ist Aktivierungstherapeutin in einem Altersheim – anrief und sagte, sie werde wegen Nasenschmerzen nicht zur Arbeit erscheinen, meinte diese: «Aber Susi, soll ich den Kollegen sagen, dass du nicht kommst, weil dir die Nase wehtut?» Susi Gut konnte die Chefin verstehen: «Es klingt tatsächlich saublöd.»

Mittlerweile war die heute 55-Jährige so verzweifelt, dass sie sich auf Geistheilung einliess. «Als ich so dalag, die Heilerin die Hände auflegte und Gebete sprach, wurde mir klar, dass das nicht der Weg zur Erlösung ist», erinnert sie sich. Früher habe sie über Leute gelacht, die Geistheiler aufsuchen. Heute habe sie Verständnis: «Irgendwann ist man so verzweifelt, dass man alles ausprobiert, was helfen könnte.»

Arzt reagiert genervt auf Google-Diagnose

Der nächste Schulmediziner ist sicher, es handle sich um Phantomschmerzen. «Sie sind auch ein Phantom», antwortet Gut wütend. Selbst als sich ihre zierliche Nase zu verformen beginnt und immer dicker wird, meint ein nächster Arzt nur: «Sie werden älter, ihre Nase wird es auch.»

Zwei Jahre lang dauert die Odyssee. 21 Ärzte aus Zürich, Bern, Basel und Aarau sehen sich laut Gut ihre Nase an. Sie probiert jedes Mittelchen, das sie auftreiben kann. Sie weiss nicht, was sie noch tun könnte. Also googelt sie: «Nasenschmerzen», «Blut», «Ekzem», «Verformung». Rasch stösst sie auf den Begriff Plattenepithelkarzinom. Krebs. «Ich glaubte nicht wirklich an Krebs, aber ich hoffte, dass es den Arzt auf die richtige Spur bringen könnte.» Sie konfrontiert den Arzt mit der Google-Diagnose. «Er reagierte genervt: Ich würde mich doch nur selber verrückt machen.» Dennoch bietet er an, die Wundkruste operativ zu entfernen und eine Biopsie durchzuführen.

Warum gab es so viele Fehldiagnosen?

«Sie haben Nasenkrebs», eröffnet ihr der Arzt, als sie aus der Narkose erwacht. Schock. Die Google-Recherche hat sich bewahrheitet. In ihrer Nase war ein Plattenepithelkarzinom herangewachsen. Immerhin: Obwohl der Krebs monatelang unentdeckt blieb, hatten sich keine Metastasen gebildet.

«Ein Plattenepithelkarzinom ist zwar grundsätzlich keine seltene Diagnose. Hier war aber wahrscheinlich der Ort des Tumors die Schwierigkeit», glaubt David Holzmann, stellvertretender Direktor der Klinik für Ohren-, Nasen-, Hals- und Gesichtschirurgie am Universitätsspital Zürich, der Susi Gut derzeit behandelt. «Die meisten Symptome, die in der Nase auftreten können, wirken grundsätzlich eher banal und wenig alarmierend.» Das sei zwar keine Ausrede, um Patienten nicht ernst zu nehmen, aber zumindest eine Erklärung, warum es zu unglaublichen 21 Fehldiagnosen kommen konnte.

«Was sollte ich tun, wenn mich keiner ernst nahm und richtig untersuchen wollte?»

Susi Gut

Der Verband Hausärzte Schweiz hält fest, dass durch so häufigen Arztwechsel nie eine Vertrauensbeziehung zwischen Patientin und Arzt aufgebaut werden konnte und dadurch wertvolle Zeit und Informationen verloren gegangen sein könnten. Gut wehrt sich: «Ich habe jedem Arzt erzählt, wie lange ich unter dem Problem leide und was ich unternommen hatte. Was sollte ich tun, wenn mich keiner ernst nahm und richtig untersuchen wollte? Mir blieb keine andere Wahl, als einen anderen Arzt aufzusuchen.»

Vier Jahre sind seither vergangen. 13 Operationen musste Gut über sich ergehen lassen. Weil die Nase ständig tropft, hat sie ihren Zweitjob als Sportmasseurin verloren: «Die Leute haben sich zu Recht beschwert, weil ich immer wieder die Nase putzen musste.»

Aktuell erholt sich Gut von einer gescheiterten Wiederherstellungsoperation. Im Juni soll sie wieder arbeiten gehen. «Ich will unbedingt arbeiten. Aber ich habe Schmerzen, ich sehe Doppelbilder, die Nase läuft, und mein Gesicht ist dermassen entstellt, dass mich alle anstarren.» Die Hoffnung bleibt, dass in den nächsten Wochen alles besser wird. Denn Guts grösste Angst ist, auch noch ihren Job als Therapeutin zu verlieren: «Schliesslich wartet mit 55 keiner mehr auf mich.»