Beobachter: Sie liessen sich mit 63 Jahren freiwillig pensionieren. Das gehört in den Chefetagen nicht gerade zur Tagesordnung.
Oswald Oelz: Tatsächlich bleiben viele Berufskollegen wie auch die meisten Bankpräsidenten und Konzernchefs am liebsten bis über den letzten Tag hinaus und müssen dann hinauskomplimentiert werden. Man schiebt gerne vor, man sei unersetzlich; dabei warten alle darauf, dass endlich das Verfalldatum wirksam wird.

Beobachter: Dieses haben Sie wohl mit guten Gründen vorverlegt.
Oelz: Ich sagte mir: Warum nicht aufhören, wenn es am schönsten ist? Wenn man manchmal noch etwas weiss, was die meisten Mitarbeiter nicht wissen? Vielleicht bereue ich das bald, wie die Schriftstellerin Klara Obermüller, die ihren Pensionierungsschock in einem Buch verarbeitet hat.

Beobachter: Was werden Sie künftig am meisten vermissen?
Oelz: Die Arbeit. Medizin war bis jetzt mein Lebensinhalt. Ich finde es unglaublich spannend, aufgrund eines Krankheitsbildes die treffende Diagnose zu finden und nach Lösungen für eine Heilung zu suchen. Diese Befriedigung wird mir fehlen. Ich werde mich sicher weiterhin mit Medizin befassen, aber nicht mehr aktiv.

Beobachter: Haben Sie sich auf eine Alternativkarriere, wie Sie die bevorstehende Zeit nennen, vorbereitet?
Oelz: So gut wie möglich. In letzter Zeit trat bei mir das Bewusstsein der Endlichkeit ganz stark in den Vordergrund. In 20 Jahren bin ich ein alter Mann. Wenn ich Glück habe, bleibe ich bis 80 oder 85 gesund und fit. Natürlich lassen mit 60 Herz-Kreislauf- und Lungenfunktion nach und die Erholungsphasen werden länger. Die Achttausender habe ich hinter mir. Ein Sechs- oder Siebentausender liegt noch drin.

Beobachter: Wie halten Sie es künftig mit den Hochrisikoprojekten?
Oelz: Die Latte bleibt gleich hoch. Das muss nicht unbedingt am Berg sein. Nach einem Hirnschlag beispielsweise kann es durchaus ein Hochrisikoprojekt sein, selbstständig aufzustehen, weil man Gefahr läuft hinzufallen. Ich würde in einer solchen Situation alles daran setzen, meine Mobilität zurückzugewinnen.

Beobachter: Mittelmässigkeit ist für Sie nicht gut genug?
Oelz: Man sollte generell nur mit den allerbesten Leuten zusammenspannen. Ich habe das Privileg, mit den besten Bergsteigern der Welt wie zum Beispiel Reinhold Messner befreundet zu sein. Auf sie konnte ich immer zählen.

Beobachter: Der Durchschnittsbürger stösst aber gar nicht zur Elite vor - gerade auch bei der Arztwahl nicht.
Oelz: Da sind die Schweizerinnen und Schweizer zu bescheiden. Man kann sich doch erkundigen, wie kompetent ein Arzt ist. Wer eine Arbeit häufig macht, zudem motiviert ist und ein stimmiges Umfeld hat, bringt nicht nur in der Medizin bessere Leistungen. Man lässt sich ja die Haare auch nicht vom Amateur schneiden.

Beobachter: Was werden Sie am ersten freien Tag tun?
Oelz: Ich gehe im Montblanc-Gebiet klettern.

Beobachter: Nichts mit Ausschlafen und Entspannen?
Oelz: Beim Klettern erhole ich mich immer am besten. Am Abend ist man gesund müde und schläft hervorragend. So laden sich meine Batterien am schnellsten auf.

Beobachter: Wie gehen Sie mit Risiko um?
Oelz: Es gibt ganz solide Projekte, bei denen man eine 80-Prozent-Chance hat. Und dann gibt es die Hochrisikoprojekte, die 10 bis 30 Prozent Erfolgschance haben. Man muss das Risiko einschätzen und dann entscheiden. Ich suche mir jeweils ein sehr ehrgeiziges Ziel aus und denke den Ablauf im Kopf immer wieder exakt durch.

Beobachter: Und doch fanden Sie sich auch schon allein auf dem Weg ins «unentdeckte Land, von dessen Bezirk kein Wanderer wiederkehrt». Dieses Bild aus Shakespeares «Hamlet» benutzen Sie für die Beschreibung einer eigenen dramatischen Situation.
Oelz: Ja, das ging tief. Bei einem Abstieg im Himalaja hatte ich mich von Halluzinationen verwirren lassen und die falsche Route gewählt. Ich stürzte ab und biwakierte fast blind vor Höhenkrankheit auf 7000 Metern bei minus 35 Grad allein und ohne jegliche Ausrüstung. Das Schrecklichste in dieser Nacht war die Einsamkeit. Am nächsten Morgen war ich immer noch am Leben, taumelte weiter nach unten, bis mich eine Lawine viele hundert Meter ins Leben zurückspülte.

Beobachter: Hat dieses Erlebnis Ihr Leben verändert?
Oelz: Es hat die Erkenntnis vertieft, dass wir uns über jeden Morgen freuen und ihn geniessen sollen, aber manchmal auch das Ende bedenken müssen. Dann wird die totale Einsamkeit vielleicht vertraut und, wenn sie kommt, nicht nur Schrecken sein.

Beobachter: Ist Extrembergsteigen eine Sucht?
Oelz: Anzeichen von Sucht sind bei Extrembergsteigern durchaus erkennbar. So zum Beispiel das Bedürfnis nach einem immer stärkeren und häufigeren Kick oder auch Entzugserscheinungen.

Beobachter: Wurden Sie zu dieser Sucht verführt?
Oelz: Beim ersten Mal lockte mich meine Mutter mit Schokolade auf einen Gipfel. Das war 1948, ich war gerade fünfjährig. Mein Vater weigerte sich mitzukommen. Dann steigerten wir uns laufend.

Beobachter: Lässt Ihnen Ihre Frau bei diesem leidenschaftlichen Hobby freie Hand?
Oelz: Schon als wir uns vor 26 Jahren kennen lernten, betrieb ich dieses Hobby intensiv. Für mich war klar, dass ich nicht darauf verzichten will. Sie akzeptierte das. Sonst wäre nichts aus uns geworden.

Beobachter: Der Tod war von Berufs wegen Ihr ständiger Begleiter. Haben Sie mit Ihren Patienten über Ihre persönliche Einstellung dazu gesprochen?
Oelz: Eigentlich weniger. Wenn ich Patientinnen oder Patienten darüber aufklären musste, dass es keine Hoffnung auf Heilung gab und der Tod absehbar war, erlebte ich die unterschiedlichsten Reaktionen; einige waren von der Vorstellung erfüllt, mit ihrem verstorbenen Partner endlich wieder vereint zu sein.

Beobachter: Sie selber glauben nicht an ein Leben nach dem Tod?
Oelz: Ich kann nichts erkennen, das mich daran glauben lassen könnte.

Beobachter: Was halten Sie von Nahtoderfahrungen mit Farben am Ende des Tunnels, von denen Menschen, die an der Schwelle zum Tod standen, immer wieder berichten?
Oelz: Nichts. Das sind elektrische Entladungen eines sauerstoffarmen Gehirns, letzte Zuckungen sozusagen. Dann ist es aus.

Beobachter: Wie möchten Sie auf keinen Fall sterben?
Oelz: Die Vorstellung, als Geisel gequält, gefoltert und geköpft zu werden, finde ich unerträglich. Aber jetzt freue ich mich darauf, neben dem Klettern Dinge zu tun, die bei mir aus Zeitmangel zu kurz gekommen sind. Zum Beispiel Lesen.

Beobachter: Bekommt man weiterhin in der Wirtschaftszeitung «Bilanz» Ihre eigenwillige Kolumne «Diagnose» zu lesen?
Oelz: Die «Bilanz» wünscht, dass ich meine Ergüsse weiterhin zu Papier bringe. Sie hätte ja mein Engagement auch beenden können, jetzt, wo ich nicht mehr Chefarzt bin. Dann wären mir als Schafzüchter aber immer noch Lammbeuscherl geblieben.

Beobachter: Was in aller Welt ist das?
Oelz: Lammbeuscherl ist Lunge und Herz vom Lamm auf raffinierte Art zubereitet. In Ländern mit etwas mehr Esskultur als hier, beispielsweise im Osten von Österreich, ist es eine Delikatesse und wird in Feinschmeckerlokalen angeboten. Hierzulande wird es bei mir am Bachtel gekocht und serviert. Es schmeckt grandios.