«Ich habe immer wieder Träume, in denen ich von wilden Tieren bedroht werde. Meistens ist es ein Löwe, der mich umkreist. Wenn er mich angreift, erwache ich schweissgebadet. Was kann ich gegen meine Angstträume tun?»

Lisa P.

Koni Rohner, Psychologe FSP:


Träume sind der Königsweg zum Unbewussten», schrieb Sigmund Freud, der «Vater der Psychoanalyse», vor hundert Jahren in seinem Buch über die Traumdeutung. Wer sein Unbewusstes ergründen will, hält sich also am besten an die Träume. In ihnen spiegeln sich all jene Teile von uns, die wir nicht direkt wahrnehmen können oder wollen.

Das Unbewusste ist eine Art Rumpelkammer, in der alles verborgen und eingesperrt wird, was nicht in unser Selbstbild passt: Verpöntes, Peinliches, Böses, Lächerliches und Gefährliches. Nachts, wenn der Wächter an der Tür zu diesem Verlies schläft, dringen die verdrängten Kräfte jedoch ins Bewusstsein und gestalten die Träume. Dabei, so meinte Freud, achtet aber ein Zensor darauf, dass alles so verhüllt dargestellt wird, dass es uns nach dem Erwachen nicht vor uns selber graut.

Freuds Schüler Carl Gustav Jung hat diesen Ansatz weiterentwickelt und darauf hingewiesen, dass wir in unseren Träumen Regisseur, Darsteller, Kulissen und Drehbuchautor in einem sind. Mit anderen Worten: Wir begegnen im Traum nur uns selber. Oft werden wir dabei mit den unerwünschten, unbekannten Seiten unserer Persönlichkeit konfrontiert. Jung hat diesen Teil unseren «Schatten» genannt.

Lisa P. begegnet also im Löwen ihrer ureigenen animalischen, aggressiven Seite was wohl ein Zeichen dafür ist, dass sie diese Bereiche zu wenig in ihr Leben integriert hat. Ziemlich sicher ist sie eine Person, die zu mild, zu friedfertig, zu angepasst und zu brav durchs Leben geht. Ihre Umwelt wird zwar zweifellos Freude daran haben, dass Lisa P. so angenehm und unauffällig alles mitmacht. Aber ihr Benehmen entspricht nicht ihrem wirklichen Temperament. Wenn sie unbequemer wird, wenn sie etwas mehr «brüllt» und «Zähne zeigt», wird sich der Traum verändern oder gar verschwinden.

Leider gibt es in unserer Seele noch einen anderen Mechanismus im Umgang mit dem Schatten. Und der ist sehr viel destruktiver. In der Regel projizieren wir unsere Schattenaspekte nämlich unbewusst auf andere Menschen. All das Hässliche, das wir in uns selbst nicht erkennen können, machen wir in unseren Mitmenschen aus. Das kann zu Rassismus, Diskriminierung und Mobbing führen vielleicht sogar zu Gewalt. Je heftiger jemand über die Schwächen anderer herzieht, je lauter jemand Bestrafung fordert und Mitmenschen verurteilt, desto grösser und schwärzer ist sein Schatten.

Wir können unsere Welt nur lebenswerter gestalten, wenn wir erkennen, dass wir mit unserem Schatten anders umgehen müssen (siehe Buchtipp). Wem uns das gelingt, bringen wir mehr Verständnis für die Schwächen anderer auf und helfen uns gleichzeitig selbst. Denn der Schatten beschert uns nicht nur unangenehme Träume, er kann uns auch krank machen. Zudem verbrauchen wir sehr viel Energie, um die Tür zur Rumpelkammer unserer Seele geschlossen zu halten und die feinen Lebenszeichen, die aus ihr zu uns dringen, zu übertönen und zu verdrängen.

Das eigene Hässliche akzeptieren

Nicht zuletzt steckt auch im «Bösen» eine Portion Lebensenergie, die wir erst dann nutzen können, wenn wir unseren Schatten integriert haben. Das ist nicht leicht. Denn es gilt zu erkennen, was alles an Peinlichem, Hässlichem und Gefährlichem zu uns gehört. Das kann in einer Psychotherapie geschehen, in einer Selbsterfahrungsgruppe oder durch schonungslose Selbstbeobachtung.

Dabei geht es nicht darum, uns als Sünder zu fühlen und Schuldgefühle zu entwickeln sondern darum, uns ungeschminkt zu akzeptieren. Wenn wir unsere Unvollkommenheit nicht nur intellektuell und oberflächlich akzeptieren, sondern sie wirklich annehmen können, entwickelt sich eine Art Besorgnis. Und mit dieser wächst die Chance, dass das «Böse» auch in extremen Situationen nicht mehr durchbrechen kann.

Der Schatten soll also nicht bekämpft oder unterdrückt, sondern in etwas Neues verwandelt werden. Wenn wir die eigene Hässlichkeit akzeptieren, können wir sie gleichsam durchschreiten: Die Rumpelkammer ist plötzlich hell erleuchtet. Wir sehen, was in ihr herumsteht, und müssen die Tür zu ihr nicht mehr geschlossen halten. Stattdessen können wir den einen oder anderen Teil unseres «Schatten-Inventars» sinnvoll in ein kreatives Leben einbauen.


Buchtipp

Verena Kast: «Der Schatten in uns.»

Die subversive Lebenskraft. Walter-Verlag, Fr. 27.50