Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung, und den haben Sie bereits getan. Sie haben erkannt, dass ein Teil Ihrer Seele ein kleines Kind geblieben ist, das ein starkes Bedürfnis hat, sich an einer Person festzuhalten. Theoretisch ist die Heilung sehr einfach: Das Kind muss allmählich erwachsen werden; es muss mehr Vertrauen und Selbstständigkeit entwickeln lernen. Dazu können Ihre erwachsenen Seelenanteile beitragen, indem sie behutsam und verständnisvoll diese kleinkindliche Seite annehmen und angemessen berücksichtigen – genau so, wie das gute Eltern tun würden: Verständnis zeigen, aber auch immer wieder Entwicklungsanstösse und Herausforderungen anbieten.

Sie sollten also Ihre Schwäche akzeptieren, sie aber auch zu überwinden versuchen. Es ist möglich, aber schwierig, diesen Weg allein zu schaffen. Einfacher ist es, dafür die Hilfe einer psychotherapeutischen Fachperson in Anspruch zu nehmen. Sie wird den kindlichen Teil auf seinem Entwicklungsweg begleiten, bis Ihre ganze Persönlichkeit harmonisch erwachsen geworden ist und sich der «Komplex» aufgelöst hat.

Traumatisiert durch Kindheitserlebnis
Auch wenn das mit dem inneren Kind ein wenig seltsam tönt, ist das Gefühl von Anita G. eine sehr anschauliche Beschreibung einer klassischen neurotischen Störung, wie sie schon Sigmund Freud beschrieben hat. Ein Konflikt oder eine schmerzhafte Erfahrung in der frühen Kindheit führt dazu, dass sich ein Teil der Seele nicht weiterentwickelt und wie ein Eisklumpen im Bachbett das freie Fliessen der Persönlichkeit behindert. Eine Verhaltenstendenz, die für ein Kleinkind durchaus sinnvoll und angebracht ist, stört im Erwachsenenleben. Aber es handelt sich glücklicherweise um einen Eisklumpen und nicht um einen Stein. Denn das Hindernis besteht aus seelischem Material, das sich unter therapeutischen Bedingungen verflüssigen kann.

Freud nannte das von Anita G. beschriebene Phänomen eine «Fixierung». Man bleibt in seiner Entwicklung dort teilweise stehen, wo etwas schief gelaufen, ein so genanntes Trauma passiert ist. In der Regel war es eine kurze, ausserordentlich schmerzhafte und beängstigende Erfahrung oder ein lang dauernder, quälender Zustand. Anita G. muss also als Kleinkind eine grosse Unsicherheit erlebt haben. Vielleicht war sie lange von der Mutter getrennt, erlebte eine plötzliche Verlassenheit oder hatte Eltern, die ihr grosses Bedürfnis nach Nähe und Getragenwerden nicht erkannten oder nicht befriedigen konnten.

Die Erfahrung von «Urvertrauen» lässt sich aber nur teilweise in der Therapiesituation nachholen – teilweise muss ihr damaliges Fehlen ganz einfach betrauert werden. Das macht die Klientin wieder lernfähig, und sie kann erkennen, welche erwachsenengemässen Möglichkeiten ihr zur Verfügung stehen, um ein Gefühl von Selbstständigkeit und Sicherheit zu erleben.

Natürlich wäre Anita G. auch kurzfristig geholfen, wenn sie auf einen sehr «mütterlichen» Liebespartner stossen würde, an dem sie sich festhalten könnte. Wahrscheinlich würde der sich aber über kurz oder lang eingeengt fühlen und sich zurückziehen oder abweisend werden. Das Zerbrechen der Beziehung würde die Angst vor dem Verlassenwerden bei Anita G. noch verstärken, und ihre Klammertendenz würde grösser statt kleiner. Statt Heilung und Reifung entstünde also lediglich ein Teufelskreis, aus dem ein Entrinnen immer schwieriger würde.

In der Tat sind solche Entwicklungen bei neurotischen Störungen die Regel. Freud hat das Muster «Wiederholungszwang» genannt. Wer also im Leben immer wieder die gleichen Fehler macht, darf vermuten, dass er nicht von einem ungerechten Schicksal immer wieder geschlagen wird, sondern einfach unter einer Neurose leidet. Oft erkennt man auch den Kern des Problems nicht so klar, wie es Anita G. gelungen ist. Meist spielt einem der unreife Teil aus dem verdrängten Unbewussten einen Streich, und man ist selber erstaunt, dass man sich wieder so ungeschickt benommen hat. Dann besteht der erste Schritt darin, zu erkennen, dass nicht immer die andern schuld sind, sondern dass man an den Konflikten mit Eltern, Partnern, Kindern und am Arbeitsplatz in der Regel selber einen Anteil hat.