Frage: «In meinem Leben hat sich vieles stabilisiert. Doch die Essanfälle sind geblieben. Jeden Tag nehme ich es mir vor, dass es diesmal anders läuft. Und dann verschlinge ich doch wieder den halben Kühlschrank und erbreche alles. Danach fühle ich mich immer so elend.»

Es freut mich zu lesen, dass sich vieles in Ihrem Leben stabilisiert hat und Sie viele Widrigkeiten überwinden konnten. Ich kann mir gut vorstellen, wie sich das Ganze bei Ihnen und anderen Menschen in einer ähnlichen Situation abspielt: Eigentlich könnten Sie es etwas gelassener angehen und Ihre Freizeit abends geniessen. Und doch lauert da immer noch ein Schatten aus Ihrer Vergangenheit – die Bulimie.

Den ganzen Tag stellen Sie sich vor, wie Sie vielleicht ein Bad nehmen werden, einen skandinavischen Krimi anschauen und dann wieder mal früher zu Bett gehen. Den ganzen Tag versuchen Sie aber auch krampfhaft zu verdrängen, was eben auch passieren könnte. Dass Sie sich innerlich leer und erschöpft fühlen werden und dann nur noch eins geht: essen (oder fressen, sich vollstopfen, wie es Betroffene meist nennen).

Abends kippts dann jeweils ganz schnell. Das Bad wird auf den Folgetag verschoben. Kurz taucht eine Vorfreude auf, ein Gefühl von Genuss oder Entspannung durch Essen, verbunden mit einem gemeinen Kompromissvorschlag: Mass zu halten und nur etwas Schokoladenpudding zu essen. Dann endet es trotzdem immer gleich. Ein Haufen leerer Essverpackungen, der unwiderstehliche Drang zu erbrechen und schliesslich der wahre Trümmerhaufen: Gefühle voller Schuld und Beschämung.

An der Willensstärke liegts gewiss nicht

Eine Betroffene berichtete mir, dass sie am liebsten im Erdboden versunken wäre, als die Zahnärztin sie auf die Säureschäden an den Zähnen ansprach und ihr die Espresso-Ausrede nicht wirklich glaubte. Am schlimmsten ist für die meisten der Selbsthass. Zwischen den Zeilen lese ich, dass dies bei Ihnen leider auch so ist. Niemand zerfleischt Sie so wegen Ihrer Bulimie wie Sie selbst.

Ich kann gut verstehen, dass Sie Ihren Willen stärken möchten. Aber ich bezweifle leider, dass Ihnen mehr Willensstärke helfen wird, die Bulimie zu überwinden. Sie haben in Ihrem Leben viel Schwieriges wegstecken müssen und standen ohne Unterstützung durch die eigene Familie meist alleine da. Sie haben Kinder grossgezogen und beruflich viel erreicht. Sie sind willensstark. Ihr Wille ist eigentlich sogar Ihre Hauptressource. 

Wenn sich die Bulimie mit Willensstärke überwinden liesse, hätten Sie es also schon längst geschafft. 

Viele Bulimie-Kranke haben Schwierigkeiten mit der Selbstfürsorge. Essen ist oft die einzige Form der tief empfundenen Selbstfürsorge. Als Kind wurden Sie für Ihre guten Noten und Ihre Bestleistungen im Sport belohnt. Mit Gefühlen wie Angst, Wut oder Traurigkeit aber wurden Sie alleingelassen. Es hiess dann jeweils «Jetzt tu doch nicht so». 

Was Ihnen helfen kann

1. Achten Sie auf kleine Pausen im Tag, in denen Sie Ihren Energietank wieder etwas auffüllen können. Sind Sie abends zu erschöpft, reicht die Kraft oft nur noch für alte Verhaltensmuster.

2. Lassen Sie paradoxerweise für eine gewisse Zeit Ihre Selbstfürsorge zu, auch wenn sie Bulimie heisst. Selbstfürsorge ist etwas sehr Wichtiges. Gegen den Zahnschaden kann Ihnen die Zahnärztin übrigens eine Zahnschiene abgeben.

3. Seien Sie vorsichtig mit der motivierend gemeinten Selbstkritik. Als Ihre Eltern Ihnen als Kind immer «Jetzt tu doch nicht so» sagten, fühlten Sie sich nicht wahrgenommen und 
in Ihrer Not ignoriert. Und jetzt sagen Sie sich genau dies selbst, wenn es um die Bulimie geht. Ich kann mir gut vorstellen, dass Ihnen das nicht hilft und Sie innerlich genauso verletzt wie die Kommentare der Eltern damals.

4. Finden Sie neue Wege zur Selbstfürsorge. Fragen Sie sich, wann die Bulimie bei Ihnen angefangen hat. Was hätte Ihnen damals zur Selbstfürsorge geholfen? Kann man das ins Jetzt transportieren?

5. Denken Sie beim scheinbar fehlenden Willen an ein Fahrrad. Wenn die Kette rausgefallen ist, können Sie sich noch so abstrampeln – das Velo bewegt sich nicht mehr. In einer Psychotherapie erhalten Sie die nötigen Mittel, um sich eine neue Kette zu bauen.

Wissen, was dem Körper guttut.
«Wissen, was dem Körper guttut.»
Chantal Hebeisen, Redaktorin
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