Langsam sammelt Karin Jost den Speichel in ihrem Mund, räuspert sich und spuckt ihrer Performancepartnerin die ganze Ladung ins Gesicht. Regula Kopp zuckt mit keiner Wimper, lässt den Speichel über das Kinn laufen, sammelt ihrerseits genug Spucke und trifft Karin Jost damit unter dem rechten Auge. Dann beginnt die Prozedur von neuem.

Anlässlich der Messe «Kunst 98»

bespuckte sich das Performanceduo Joko eine ganze Stunde lang auf dem Zürcher Paradeplatz. Die Passantinnen und Passanten reagierten extrem. Fassungslos und mit offenem Mund starrten ältere Herren auf das Geschehen, distinguierte Damen schüttelten sich vor Ekel, und junge Mütter mit Kindern verloren die Contenance und ereiferten sich ob der künstlerischen Aktion. Die beiden Performancekünstlerinnen mussten wüste Beschimpfungen über sich ergehen lassen.

Der Hass kam überraschend

Bei ihrem Auftritt in der Sendung «Talk täglich» des Privat-TV-Senders Tele 24 (heute Tele Züri) wurden Jost und Kopp von einem entrüsteten Moderator in die Mangel genommen, und aufgebrachte und erboste Anruferinnen und Anrufer legten die Telefonleitungen lahm. Karin Jost musste später sogar eine geheime Nummer für ihren privaten Anschluss beantragen. «Die anonymen Anrufe mit Beschimpfungen und Drohungen wurden für meine Familie zur Belastung.»

Mit so viel Empörung hatten die beiden Künstlerinnen nicht gerechnet. «Wir wussten, dass unsere Aktion für Aufsehen sorgen würde, das ist ja auch der Sinn einer solchen Performance», sagt Regula Kopp, «aber der abgrundtiefe Hass in den Reaktionen hat uns schon überrascht.»

Speichel, Sperma, Urin, Kot oder Menstruationsblut: Die Ausscheidungen des menschlichen Körpers lösen bei vielen Ekelgefühle aus obwohl sie eigentlich die natürlichste Sache der Welt sind. Ekel gilt als stärkster Sinneseindruck des Wahrnehmungsapparats provoziert durch eine ungewollte Nähe, auf die die Menschen mit Flucht, Aggression oder Brechreiz reagieren. Erstaunlich ist nur, dass diese starke Emotion wissenschaftlich noch kaum erforscht worden ist.

Natürlich oder angelernt

«Dass es noch keine systematischen Untersuchungen zu diesem Thema gibt, liegt sicher daran, dass der Ekel wie die Eifersucht eine stark aversive Emotion, eine starke Abneigung ist», sagt dazu Bernd Reuschenbach, Diplompsychologe an der Universität Heidelberg. Für seine Seminare zur Emotionspsychologie hat er sich eine eigene Systematik erarbeitet, die Ansätze aus Medizin, Ethnologie, Literaturwissenschaft und Psychologie zusammenführt.

Reuschenbach unterscheidet zwei Arten von Ekel. Die erste ist evolutionsbedingt und angeboren. Diese Form von Ekel schützt uns vor schädlichen Stoffen wie beispielsweise Fäkalien, stinkenden Chemikalien und krankheitsübertragenden Schleimen: Das Schliessen der Nasenlöcher, Speichelfluss und Brechreiz sorgen dafür, dass die gefährliche Substanz nicht in den Körper gelangt.

Der andere Ekel ist kulturell bedingt und wird mittels Tradition weitergegeben. So ruft der Genuss eines Käsefondues in einigen asiatischen Kulturen ähnliche Gefühle hervor wie ein in Butter und Zwiebeln gesottenes Affenhirn in Europa. Beide Speisen sind nachweislich nicht giftig.

Interesse an diesem speziellen Fachgebiet entwickelte Reuschenbach durch die Erfahrungen, die er in seinem Erstberuf als Krankenpfleger gemacht hatte. «Bei dieser Tätigkeit wird man unweigerlich mit Ekel erregenden Situationen konfrontiert. Man sollte gut darauf vorbereitet sein, um damit umgehen zu können.» Doch dieser Aspekt fehle in der Ausbildung im Gegensatz zur Hygiene weitgehend. Reuschenbach: «Da wird allenfalls im Nachhinein diskutiert, wie man diese Erfahrungen verarbeiten kann.» Auch in der Schweiz wird diese Thematik in der Pflegeausbildung nur gestreift. Spezielle Kurse zum Umgang mit Ekel kamen bisher wegen mangelnden Interesses nicht zustande.

Im Gespräch mit Pflegenden zeigt sich allerdings, dass jede und jeder im Arbeitsalltag schlimme Erfahrungen mit Ekel erregenden Situationen gemacht hat. Oft werden solche Erlebnisse mit dem Argument relativiert, dass man sich an abstossende Situationen gewöhnen könne. Dies stimmt jedoch nur zum Teil, wie selbst erfahrene Pflegerinnen bestätigen. Zu Beginn der Berufstätigkeit seien die Ekelgefühle sehr stark, schwächten sich dann etwas ab, könnten dann aber plötzlich wieder ganz stark werden.

In «Nova», der Zeitschrift des Schweizerischen Berufsverbands der Geriatrie-, Rehabilitations- und Langzeitpflege, schildern Pflegerinnen und Pfleger eindrücklich den belastenden Umgang mit Erbrochenem, Schleim und Eiter. «Meine schlimmsten Erlebnisse waren, wenn demenzkranke Bewohner ihren Kot gegessen hatten und ich mit andern Mitarbeiterinnen ihren Mund säubern musste», schreibt eine 26-jährige Altenpflegerin. «Wenn so etwas passierte, wollte ich mich am liebsten nur noch auf den Boden legen und weinen. Das kann man doch keinem Aussenstehenden erzählen, was man manchmal bei der Arbeit machen muss.»

Den Ekel nicht verdrängen

Das Verschweigen solcher Emotionen ist gefährlich. Ein grosser Teil der Pflegerinnen und Pfleger steigt früh aus dem Beruf aus, andere brennen aus und vollziehen die innere Kündigung. Im Extremfall können nicht bewältigte Ekelerlebnisse sogar zu Gewalt in Pflegebeziehungen führen. Deshalb dürften Ekelgefühle im Berufsalltag nicht verdrängt werden, betont Dorothee Ringel, Pflegefachdozentin und Autorin des Buchs «Ekel in der Pflege eine gewaltige Emotion».

Auch die beiden jungen Frauen vom Performanceduo Joko sind bei ihren provokativen Spuckauftritten nicht vor Ekelgefühlen gefeit. «Beim Küssen wird der Austausch von Speichel als durchaus angenehm empfunden», sagt Karin Jost, «als wir uns aber zum ersten Mal gegenübersassen und Regula mich wie abgemacht anspuckte, empfand ich das als grauenhaft und eklig.» Mit Kampfsporttraining und Meditationsübungen bereiteten sich die beiden Künstlerinnen auf ihre Aktion vor. «Man muss einander enorm vertrauen und sich extrem konzentrieren. Eine Stunde lang redet man sich immer wieder ein, dass der herunterlaufende Speichel ganz natürlich sei», sagt Regula Kopp. Diese Strategie war ihr nicht fremd sie hatte früher jahrelang in der Altenpflege und in einem Behindertenheim gearbeitet.