Das Problem:
In der Filmkomödie «Me, Myself and Irene» spielt Jim Carrey einen Schizophrenen «mit narzisstischen Wutausbrüchen». Auch von den «Big Brother»-Bewohnern habe ich schon gelesen, sie seien narzisstisch. Was versteht man genau unter diesem Wort? Ist Narzissmus dasselbe wie Egoismus?

Martin B.

Koni Rohner, Psychologe FSP:
Die Bezeichnung Narzissmus ist dem griechischen Mythos vom Jüngling Narcissos entlehnt, der sich in sein eigenes Spiegelbild im Wasser verliebte. Vor lauter Faszination von sich selbst hörte er nicht einmal die Rufe der schönen Nymphe Echo, der er ebenfalls gefiel.

In verschiedener Hinsicht passt die Geschichte zur Charakterstruktur eines narzisstischen Menschen. So ist Schönheit, vor allem auch die eigene, für Narzissten sehr wichtig. Und in der Tat haben sie auch Schwierigkeiten mit nahen Beziehungen. Es stimmt aber nicht, dass sie sich selbst genügen wie das antike Vorbild. Narzissten brauchen Applaus, Bewunderung und ein Publikum; sie sonnen sich gern im Ruhm oder in der Bewunderung durch andere Leute.

Narzissten haben eine spezielle Begabung für das «ozeanische Gefühl», wie Sigmund Freud es nannte: Sie können die Grenzen zwischen sich selbst und der Umwelt leicht auflösen und erleben dann eine Verbundenheit mit allem. Das kann sowohl durch Naturerlebnisse, Grenzerfahrungen wie etwa Bungee-Jumping, durch Mitschwingen an einem Popkonzert oder an einer Technoparty geschehen. Die narzisstische Befindlichkeit gleicht in ihren Höhepunkten einem grenzenlosen Fliegen oder Schweben – es ist eine Art körperlose Ekstase.

Gewöhnlichkeit als Schreckgespenst
Schwierigkeiten bekommen narzisstische Persönlichkeiten primär in zwei Situationen: einerseits wenn keine Bestätigung und keine mitreissenden Reize da sind. Dann empfinden sie ein Gefühl der Leere oder, schlimmer noch, der Leblosigkeit und Depression. Anderseits bekommen sie Probleme, wenn es handfest gewöhnlich und alltäglich wird. Im nahen Zusammenleben mit einer Partnerin oder einem Partner haben sie Schwierigkeiten, sich durchzusetzen, Konflikte zu lösen oder Abmachungen einzuhalten.

Obwohl Narzissten schnell Angst davor bekommen, kontrolliert, eingeengt und beherrscht zu werden und auch selber nicht herrschen können, haben Arbeits- oder Lebenspartner oft das Gefühl, sie werden von ihnen manipuliert oder ausgesaugt. Das liegt daran, dass Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstruktur andere gar nicht wirklich wahrnehmen, sondern als Teil ihrer eigenen Grösse empfinden; sie erwarten, dass die Umwelt immer genau das tut, was ihren Vorstellungen und Plänen entspricht. Statt dass sie ihre Wünsche äussern, erwarten sie, dass ihnen diese von den Augen abgelesen werden.

Diese scheinbare Grösse und Souveränität täuscht: Narzissten sind leicht kränkbar, verletzlich und aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie werden das jedoch kaum zeigen, sondern eher auf Distanz gehen, um weiter in ihrer Traumwelt leben zu können. Wenn dieser Ausweg nicht möglich ist, bricht manchmal die zerstörerische narzisstische Wut hervor, die Martin B. in seiner Frage erwähnt.

Show- und Sportgrössen machens vor
Die Ursache für narzisstische Störungen liegt darin, dass die Betroffenen in der frühen Kindheit weder schrittweise gelernt haben, dass sie selber nicht allmächtig sind, noch die allmähliche Erfahrung machen durften, dass auch ihre Eltern nicht nur perfekt und grossartig sind. Möglicherweise erlebten sie zu wenig ruhige Aufmerksamkeit und Zuwendung der Eltern, um diese Schritte machen zu können. Natürlich gleicht auch der Narzissmus einer Medaille mit zwei Seiten: Narzissten sind oft hoch begabt und haben einen ausgeprägten Sinn für Ästhetik und Kunst. Trotz ihrer Unfähigkeit, handfesten Clinch zu ertragen, sind sie in der Lage, Lebensgenuss durch ekstatische Höhepunkte und intensive Verbindung mit andern zu erleben.

Einige Wissenschaftler sind der Meinung, dass unsere Kultur in den letzten 30 Jahren immer narzisstischer geworden ist: Die Stars aus Showbusiness und Sport erscheinen übermenschlich schön, erfolgreich und begabt. Und auch Reklame und Werbespots strahlen übernatürliches Glück und Ästhetik aus. Es ist deshalb kein Zufall, dass eine solche Kultur Alter, Krankheit und Tod verleugnen muss, weil diese eine narzisstische Kränkung darstellen, die sich schliesslich auch mit Facelifting und Silikoneinbau nicht verhindern lässt.

Menschen sind nicht perfekt, nicht immer sauber, nicht immer schön. Mal hat man einen Pickel auf der Nase, auch die schönsten Menschen riechen mal schlecht aus dem Mund, und in Beziehungen gibt es immer wieder Knatsch. Wer sich damit nicht anfreunden kann, wird ein schweres Leben haben.

Nichts gegen das Streben nach Schönheit und Vollkommenheit. Aber das grösste Geschenk ist doch, ganz gewöhnlich zu sein und sich in seiner Gewöhnlichkeit zu mögen.