Am Ende der Therapiesitzung sagt der Bruder nur «Vreni, Vreni». Verena Felder* kann nicht mehr. Sie verlässt die Praxis, zückt den Flachmann und schüttet sich mit Cognac zu. Sie hat an diesem Tag allen Mut zusammengenommen. Im Beisein ihrer Psychotherapeutin konfrontiert sie ihren Bruder zum ersten Mal damit, was vor 35 Jahren geschehen ist. 

Acht Jahre Therapie hat sie gebraucht, um Werni ins Gesicht zu sagen: «Du hast mich sexuell missbraucht, jahrelang. Nachts hast du mich aus dem Schlaf gerissen, in dein Zimmer geschleppt und neben dich ins Bett gelegt. Immer wieder. Ich stellte mich taub, musste dabei immer dieses verdammte hellblaue Täfer an der Decke anschauen. Erst als ich 9 war und du 20, hat es aufgehört. Weil du ausgezogen bist. Für mich war das der schönste Tag in meinem Leben. Es fiel mir ein Riesenstein vom Herzen. Das vergesse ich nie.»