«Sie muss doch mal ausmisten»
Nancy V.: «Seit meine Schwester vor drei Jahren ihren Freund verloren hat, wirft sie nichts mehr weg. Man müsste mal gründlich alles aussortieren und aufräumen. Als ich ihr helfen wollte, wurde sie allerdings nur wütend.»
Veröffentlicht am 29. Juli 2011 - 14:19 Uhr
Üben Sie keinen Druck aus und kritisieren Sie die Unordnung Ihrer Schwester nicht, sondern versuchen Sie herauszufinden, wieso sie keine Hilfe beim Aufräumen will. Vielleicht braucht sie das Chaos, um sich seelisch zu stabilisieren, und gerät bei plötzlichen Veränderungen in Panik. Es könnte sein, dass Ihre Schwester ein echter «Messie» ist. Dieses Erscheinungsbild wird heute genauso als psychische Störung ernst genommen wie Ängste, Depressionen oder Süchte. Weil die Wissenschaft erst daran ist, das Phänomen zu erforschen, ist es noch nicht in die internationalen Diagnosebücher aufgenommen worden.
Das Wort Messie wurde von einer betroffenen amerikanischen Sonderschullehrerin geprägt, die ein Bewältigungskonzept entwickelte und es in Büchern vorstellte. Das englische Wort «mess», Unordnung, steckt drin. Aber auch im übertragenen Sinn: «To be in an mess» heisst «überfordert sein».
Messies leben in der Tat inmitten einer Unordnung. Sie bewahren alles Mögliche auf, in der Meinung, es vielleicht später einmal verwenden zu können, hängen in einer sentimentalen Art an Gegenständen. Sie leiden aber auch an der Unfähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem zu scheiden, und es fällt ihnen schwer, Entscheidungen zu treffen oder Termine einzuhalten.
Irgendwann ist die Wohnung so vollgestopft und unordentlich, dass Betroffene keine Gäste mehr empfangen können oder wollen. Soziale Isolation droht. Natürlich gibt es Messies in verschiedenen Abstufungen. So sollen Einstein, Mozart oder der Genfer Intelligenzforscher Jean Piaget inmitten extremen Chaos gearbeitet haben. Messie kann ein Lebensstil sein, der nicht mit grossem Leiden verbunden ist. Wenn aber Gefühle der Überforderung auftreten, wenn man Ordnung schaffen möchte, einem aber alles über den Kopf gewachsen ist, braucht es Hilfe von aussen.
Ideal wirkt eine Kombination aus Psychotherapie und Coaching. In der Therapie nähert man sich dem Kern oder der Ursache des Verhaltens, und ein Coach hat sich bewährt, weil er nicht einfach tatkräftig eingreift, sondern die betroffene Person berät und unterstützt, um so keine Angst und Abwehr aufkommen zu lassen.
Obwohl Betroffenen das Wort «Messie» gefällt, schlagen die Fachleute um den Wiener Alfred Pritz den Begriff «Organisations-Defizit-Störung (ODS)» vor. Im Englischen ist «compulsive hoarding», also «zwanghaftes Horten» gebräuchlich. Es ist wichtig, ODS von depressionsbedingter Verwahrlosung zu unterscheiden.
Echte Messies sind durchaus aktiv und horten nicht aus Mangel an Lebenskraft, sondern weil sie zu sehr an den Gegenständen hängen. Sie unterscheiden sich aber auch von Sammlern, denn diese haben keine Organisationsprobleme und konzentrieren sich in der Regel auf bestimmte Objekte. Das Messie-Syndrom ist eher eine Kombination aus Aufschieberei (Procrastination) und einer nicht stoffgebundenen Verhaltenssucht.
So vertritt der Zürcher Psychotherapeut Heinz Lippuner vom Zentrum für Spielsucht und andere Verhaltenssüchte die Auffassung, die Gegenstände würden die inneren Bestandteile der Seele eines Messies symbolisieren, und er könne sie deshalb nicht weggeben, weil er dann einen Teil seiner Seele verlieren würde. Der Umgang mit materiellen Dingen wird also dafür eingesetzt, die Gefühlswelt zu stabilisieren. Das wiederum ist ein charakteristisches Merkmal aller Süchte. Vielleicht sträuben sich Messies aber auch ganz einfach unbewusst dagegen zu akzeptieren, dass auf dieser Welt alles vergänglich ist – indem sie sich exzessiv an Dinge klammern.
Weitere Informationen
Buchtipp: Alfred Pritz: «Das Messie-Syndrom»; Springer-Verlag, 2009, 324 Seiten, 62 Franken