Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen: Tempo ist keine vorübergehende Mode, kein Phänomen der Gegenwart und schon gar keine individuell gewählte Lebensart. Beschleunigung ist das Grundprinzip, das seit Beginn der Neuzeit alle Lebensbereiche durchdringt totalitär und unaufhaltsam. Tempogewinn ist das zentrale Merkmal praktisch aller Neuerungen der letzten 500 Jahre. Es gibt eine direkte Linie vom Reiterboten über Samuel Morse zum Internet, von der Dampfmaschine über den Ottomotor zum Überschalljet und vom Buchdruck über die Rotationspresse zum iPad. Immer ging es darum, noch rascher Raum und Zeit zu überwinden. Einmal entfesselt, wurde Tempogewinn zum sich selbst fortzeugenden System, das alles und jeden unterwirft.

Die Kulturgeschichte der Beschleunigung zeigt, dass sich die Menschen stets erstaunlich gut und auch gern anpassten und die Vorteile nutzten in Form von mehr Wohlstand, mehr Möglichkeiten und mehr Lebensintensität. Sie zeigt aber auch, dass letztlich niemand dem Tempozwang entgeht.

Zeit ist Geld

Jahrhundertelang herrschte das Prinzip Langsamkeit. Das Leben folgte dem Gang von Sonne und Jahreszeiten. Beharrungsvermögen und Wiederholung des Vertrauten wurden belohnt. Erste Tempo-Impulse kamen im 15. Jahrhundert von der Arbeitsteilung in Städten und vor allem von den Fernhändlern. Sie merkten, dass Langsamkeit Verlust bedeutet, dass sich Zeitvorsprung in Preisvorteil ummünzen lässt, dass das Tempo, mit dem sich das Kapital umschlägt, bares Geld bedeutet. Die Kaufleute beschleunigten den Transport und bauten schnelle Nachrichtenlinien auf, um als Erste Preise, Lieferungen und Engpässe zu kennen. Der kapitalistische Geist brach aus dem statischen Spätmittelalter aus und machte Beschleunigung zum Gewinnfaktor. «Zeit ist Geld» hiess die Losung fortan für alle Zukunft.

Stillstand ist Rückschritt

Am Anfang des Maschinenzeitalters stand um 1764 der englische Handweber James Hargreaves. Weil beim Baumwollgarn ein chronischer Engpass bestand, erfand er die manuell bedienbare Spinnmaschine «Jenny», die weit schneller spann als das Handspinnrad. Als vier Jahre später der Perückenmacher Richard Arkwright seine mit Wasserkraft angetriebene Spinnmaschine «Waterframe» in Gang setzte, gab es kein Halten mehr. Der Engpass in der Textilfertigung verlagerte sich zu anderen Arbeitsschritten und rief dort nach mehr Tempo. Innert Kürze wurde die ganze Produktionskette beschleunigt: kämmen, spinnen, weben, bleichen, drucken. «Jenny» und «Waterframe» entfesselten die Industrialisierung und setzten zugleich ein neues Prinzip frei: Die Lösung eines Problems in einem Teilbereich erzwingt anderswo Innovationen, die rasch wieder veralten. Die gesamte Wirtschaft schraubt sich zu einem immer rasanter getakteten System hoch, in dem der Schnellere siegt und der Langsame unter die Räder kommt. «Stillstand ist Rückschritt» wird zum Lehrsatz der neuen Epoche – und gilt bis heute.

Raum und Zeit vernichten

Inbegriff der industriellen Revolution ist die Dampflokomotive. Mit ihr lösten sich die Menschen vom Tempo des Pferdes und eroberten die Kontinente. «Durch die Eisenbahn wird der Raum getötet; vor meiner Tür brandet die Nordsee», notierte Heinrich Heine 1843 in Paris. Der Temposprung vom Pferd zur Bahn veränderte radikal die Begriffe von Raum und Zeit. Entfernung schrumpfte zusammen und bemass sich nicht mehr nach der Mühe, die ihre Überwindung kostet. Und die Zeit löste sich vom Ort ab und mutierte zur abstrakten Ziffer. Indem die Eisenbahn Raum und Zeit als Orientierungsmuster verwischte, veränderte sie die Wahrnehmung.

Man sprach von einer «panoramischen Welterfahrung», in der aus einer durcheinandergewirbelten Welt die Wirklichkeitsfetzen simultan und kaleidoskopartig aufs Gehirn einstürzen. Die Menschen reagierten mit Angst, Desorientierung und Überforderung bis zum Erbrechen. Sie verinnerlichten jedoch das Tempo rasch und erlebten Bahnreisen als Rausch. Geschwindigkeit war das Medium, das das neue Welt-panoptikum schuf. Und sie ist es erst recht, seit uns Satelliten die Welt live auf den TV-Schirm funken und wir per Internet in Echtzeit durchs Universum zischen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stiess die industrielle Produktion in neue Dimensionen vor. Der Amerikaner Frederick Taylor entwickelte mit Hilfe der Stoppuhr die «wissenschaftliche Betriebsführung»: Die Arbeit wird in kleinste Schritte zerlegt, der Arbeiter führt bloss noch wenige, simple Handgriffe aus. So wird jede Leerzeit eliminiert und Tempo gemacht. Der «Taylorismus» wurde zur Heilslehre der Industrie und sofort umgesetzt, in den Schlachthöfen Chicagos und den Autowerken von Henry Ford. Um die Autos noch billiger zu machen, führte Ford 1913 die vollintegrierte Fliessbandfertigung ein. Die Arbeiter wurden zu Rädchen in der grossen Maschinerie, die niemals stoppt.

Keiner hat dies eindrücklicher dargestellt als Charlie Chaplin 1936 im Film «Modern Times». Unvergesslich, wie er am Fliessband immer schneller schraubt, wie er noch in der Pause mit den Armen zuckt und spastisch durch die Gegend stolpert, wie er aufs Laufband gezogen und durch die Zahnräder gedreht wird wie durch den Fleischwolf und wie er dem Irrsinn schliesslich nur entkommt, indem er selbst überschnappt. Chaplins Film wurde zur Metapher, wie das moderne Tempo den Menschen in Dauerstress versetzt und in den Nervenzusammenbruch treibt.

Stolpern im Cyberspace

Wie meist in der Geschichte der Beschleunigung gewöhnen sich die Menschen nach anfänglicher Irritation an den höheren Takt jeder Neuerung. Wir Heutigen haben Tempogewinn derart verinnerlicht, dass er uns normal erscheint. Wir gehen davon aus, dass durch globalisierte Arbeitsteilung und rationelle Just-in-time-Produktion Konsumgüter immer billiger werden. Wir erwarten, dass dank minutiös synchronisierten Transportketten jede Ware jederzeit überall bereitsteht. Wir kommunizieren in Nanosekunden um den Globus. Und sogar in der selbstbestimmten Freizeit machen wir Tempo, indem wir Fertigfood in die Mikrowelle werfen, «für eine Pizza nach Nizza» jetten oder Partner im Speed-Dating suchen. Laufen muss immer etwas, und viele fühlen sich erst lebendig, wenn der Puls rast. So hecheln die Menschen wie Chaplin im Dauerstress durch Arbeit und Freizeit, stolpern durch den Cyberspace, werden herumgeschleudert als Masseteilchen in der Zentrifuge der Zeit.

Die Gesellschaft wird die Tempospirale nicht drosseln, denn die Gesetze, die sie treiben, gelten ungebrochen. Der Einzelne kann sich nur entziehen, wenn er radikal aussteigt. Oasen der Ruhe und bewusstes Entschleunigen mögen helfen. Aber letztlich bleibt nur, seine Nerven zu trainieren und sich anzupassen.

Mit Hilfe der Technik haben sich die Menschen aus den Zwängen der Natur befreit. Nun biegt sich das Ende in den Anfang zurück: Die technische Beschleunigung ist selbst wieder zu einem Zwang geworden, so stark wie ein Naturgesetz. «Survival of the fittest» – der am besten Angepasste überlebt, hatte Darwin als ewiges Gesetz der Natur erkannt. Mit Maschinenkraft und Mikrochip haben die Menschen es zu einem Universalgesetz gemacht.