Frage von Alfred S.: «Ich ertappe mich immer wieder dabei, wie ich das Verhalten anderer Leute verurteile und mich masslos über sie ärgere. Warum tue ich das? Und wie könnte ich mich davon befreien?»

Offenbar erleben Sie Ihre Intoleranz als etwas, was nicht so richtig zu Ihnen gehört und dem Sie ausgeliefert sind. Es handelt sich um ein Muster, das nicht in Ihr Selbstbild und schon gar nicht in Ihr Selbstideal passt. In der Tat können Sie an diesem Punkt ansetzen und dem unerwünschten Verhalten mit einer Psychotherapie zu Leibe rücken. Der erste Schritt ist nämlich mit der Ortung des Problems bereits getan.

Schon der Urvater der Psychotherapie, Sigmund Freud, hat beobachtet, was Sie beschreiben. Er sprach vom «Wiederholungszwang». Wenn wir immer wieder denselben Fehler machen (müssen), deutet das tatsächlich auf eine seelische Blockade oder Störung hin, die sich bearbeiten lässt. Eine moderne Therapieform, die Schematherapie, geht ebenfalls von diesem Phänomen aus und nennt solche unfruchtbaren Verhaltens- und Erlebensmuster, wie ihr Name sagt, Schemata. Der deutsche Psychotherapeut Eckhard Roediger (siehe Buchtipp) spricht von Lebensfallen, in denen man gefangen ist.

Verhaltensmuster fräsen sich ins Hirn

Ein anderes Beispiel für ein solches Muster ist etwa die Angst, verlassen oder betrogen zu werden, die bei einem nichtigen Anlass anfallartig auftritt, auch wenn die betroffene Person genau weiss, dass sie überreagiert. Es ist, als gehe man über ein Feld mit einer oder mehreren trichterartigen Vertiefungen. Kommt man einer zu nahe, rutscht man in die Senke. Ein anderes Bild dafür ist eine Strasse mit tief eingefahrenen Karrengleisen. Wenn man nicht aufpasst, gleitet man immer wieder in die alten Furchen, obwohl man es vermeiden möchte. Tatsächlich hat die moderne neurobiologische Forschung nachgewiesen, dass bei einem solchen Erlebens- und Verhaltensschema im Gehirn immer ein bestimmtes Muster von Nervenzellen gleichzeitig aktiv ist. Das Gehirn ist auf diese eine Reaktionsweise programmiert.

Wie entstehen solche unfruchtbaren und hartnäckigen Programme oder Schemata? Wir kommen mit mindestens drei Grundbedürfnissen auf die Welt: Wir brauchen erstens ein Zugehörigkeitsgefühl, das uns Sicherheit gibt, wir brauchen zweitens die Möglichkeit, selbständig die Welt zu entdecken, um uns autonom und frei zu fühlen, und wir müssen drittens erleben können, dass wir Fähigkeiten haben, Ziele erreichen können und wertvolle Menschen sind, um daraus ein gutes Selbstbewusstsein zu entwickeln. Wer in einem der drei Bereiche Mangel leiden oder schmerzhafte Erfahrungen machen musste, entwickelt oft ein ungesundes Schema, das ihn das ganze Leben lang im Griff hält. Es kann zum Beispiel sein, dass ein früher Mangel an Zuwendung zu einem Gefühl von Verlassenheit führte, das immer wieder unkontrollierbar auch über den Erwachsenen hereinbricht.

Vielleicht hat der Betroffene zur Bewältigung aber auch das Muster entwickelt, Menschen gar nicht mehr an sich herankommen zu lassen. Oder er kompensiert, indem er immer wieder andere Menschen, die ihm vertrauen, im Stich lässt, um endlich Täter und nicht Opfer zu sein.

Eine neue Strasse bahnen

In Ihrem Fall könnte es sein, dass Sie als kleines Kind daran gehindert wurden, ein solides Selbstbewusstsein zu entwickeln – und dass Sie kompensatorisch andere abwerten mussten, um sich besser zu fühlen. Das Muster ist Ihnen bis heute geblieben und die Ursache Ihrer Intoleranz, die Sie ja selber verurteilen.

Was muss in einer Therapie geschehen? Das unfruchtbare Muster muss erkannt und identifiziert werden. Es kann hilfreich sein, seine Entstehung und damalige Funktion zu verstehen. Es muss aber auch ein neues, konstruktiveres Muster aufgebaut, eine neue Strasse gebahnt werden, so dass die alten Karrengleise ihre verhängnisvolle Anziehungskraft verlieren.

Ungünstige Schemata liegen vor,

  • wenn ich in bestimmten, sich gleichenden Situationen immer wieder auffallend emotional reagiere;
  • wenn mir auffällt, dass die meisten Leute in ähnlichen Situationen anders reagieren;
  • wenn ich mein unerwünschtes Verhalten trotz Einsicht nicht ändern kann.

Eckhard Roediger: «Raus aus den Lebensfallen! Das Schematherapie-Patientenbuch»; Verlag Junfermann, 2012, 136 Seiten, Fr. 19.90