Tanja Grimaître war im Auto unterwegs zu ihren Eltern, als es passierte: ein Auffahrunfall. Scheinbar nichts Ernstes: «Ich hatte nur leicht den Kopf angeschlagen», sagt die 25-Jährige. Kurz danach schmerzten Schulter und Nacken, oft war ihr schwindlig und übel. Ärztliche Diagnose: Schleudertrauma.

Das war vor fünf Jahren. Tanja Grimaître konnte ihre Lehrstelle nicht antreten, die nächsten Monate verbrachte die junge Frau in Reha-Kliniken. Einen Teilzeitjob am Kiosk musste sie aus gesundheitlichen Gründen wieder aufgeben. Sie schluckt «ziemlich viele Medis» und ist arbeitslos. Ihren Wunschberuf Automechanikerin hat sie längst abgeschrieben.

Als ob das nicht schlimm genug wäre, hat sie seit kurzem auch Ärger am Hals: Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva) hat ihr den Geldhahn zugedreht. Versicherte haben nach einem Unfall Anspruch auf ein Taggeld – wird das Leiden chronisch, bezahlt die Suva eine Rente. Doch nach einer Untersuchung durch den Suva-Arzt im April erfuhr die Patientin, dass sie kein Geld mehr erhalte. Begründung: «Die jetzt noch geklagten Beschwerden sind organisch als Folge des erlittenen Unfalls nicht mehr erklärbar. Gemäss fachärztlicher Beurteilung sind psychische Gründe dafür verantwortlich.»

Grimaîtres Anwalt Peter Kaufmann aus Bern widerspricht: «Die Suva versucht die Sache unter Anwendung der Psychopraxis abzuwürgen.» Dieser Fall ist keineswegs einzigartig: Mindestens zehn Anwälte von weiteren Geschädigten bestätigen dem Beobachter die neue, restriktive Praxis. So habe die Suva «in bisher unbestrittenen Fällen» ihre Leistungen «Knall auf Fall» eingestellt, moniert etwa Rechtsanwalt Volker Pribnow aus Baden AG.

Und auch einer Klientin des Zuger Rechtsvertreters David Husmann wurden die Zahlungen gestrichen – mit der Begründung, es seien «psychische Gründe» für die Beschwerden verantwortlich. Organisch sei nichts nachzuweisen. David Husmann ist überzeugt: «Hier geht es um die Etablierung einer neuen Praxis. Es gibt eine Suva-Weisung von oben, die Praxis zu verschärfen. Mitarbeiter der Versicherung haben mir das bestätigt.»

Markus Schmid, der Präsident des Schleudertrauma-Verbandes, weiss: «Die Suva hat für diese Vorgehensweise ein internes Arbeitspapier verfasst. Darin wird die Aufgabe des Suva-Arztes klar so umrissen, dass nur noch strukturelle Verletzungen als Unfallfolgen anerkannt werden.» Mit strukturellen Verletzungen meint der Versicherer Brüche oder Risse, die mit Röntgenbild, Computertomogramm oder Magnetresonanztomografie (MRI) sichtbar gemacht werden können.

Mit diesem «Kampfpapier» wolle die Versicherung die bisherige Praxis untergraben. Schmid kritisiert das Verhalten der Suva als «hinterhältig»: Gegenüber der Öffentlichkeit spiele sich die Unfallversicherungsanstalt als «Partner der Versicherten auf», lasse diese aber in Tat und Wahrheit «im Regen stehen».

«Diese fragwürdige Aktion erfolgt auf dem Buckel von vielen Versicherten, die durch den Unfall bereits genug geschädigt sind», ärgert sich auch der Luzerner Rechtsanwalt Alex Beeler, der mehrere Dutzend Schleudertrauma-Opfer vertritt. «Zudem widerspricht die Vorgehensweise der Suva der Rechtsprechung.»

Tatsächlich stellte das Eidgenössische Versicherungsgericht, eine Abteilung des Bundesgerichts, in einem Leiturteil von 1991 fest: Auch wenn bildgebende Verfahren wie Röntgen oder Computertomogramm die für ein Schleudertrauma typischen Beschwerden nicht nachweisen könnten, dürften diese nicht als «rein subjektive» Beschwerden abgetan werden.

Die Diagnose ist schwierig

Das «bunte Beschwerdebild» (Kopfweh, Schwindel, Konzentrationsstörung, Übelkeit, rasches Ermüden, Depression, Wesensveränderung) könne durchaus Folge von Mikroverletzungen der Halswirbelsäule sein, so die Richter. Entscheidend sei einzig, «dass die Beschwerden zu einer ausgewiesenen Arbeits- beziehungsweise Erwerbsunfähigkeit» führten. Die versichertenfreundliche Praxis widerspiegelte sich auch in der Zahl gemeldeter Schleudertrauma-Fälle: 1990 waren es rund 7200, 2003 bereits 11900. Die Kosten vervierfachten sich sogar.

Die Suva wischt alle Vorwürfe der Anwälte vom Tisch: «Von Verschärfung der Anerkennungspraxis kann keine Rede sein», schreibt Suva-Sprecher Erich Wiederkehr. Es existiere auch keine solche Weisung: Beim «Kampfpapier» handle es sich um Schulungsunterlagen für neue Sachbearbeiterinnen. Wiederkehr: «Es ist eine böswillige Unterstellung, daraus eine Weisungsgebundenheit der Suva-Ärzte abzuleiten.» Ärzte könnten frei entscheiden.

Der springende Punkt dabei ist: Ein Schleudertrauma lässt sich medizinisch oft nicht eindeutig diagnostizieren. Selbst die Suva räumt ein, dass Schleudertrauma-Fälle «vom medizinischen Standpunkt aus weitgehend nicht objektivierbar sind». Das bedeutet: Es gibt einen Ermessensspielraum. «Die Entschädigungspflicht kann in solchen Fällen praktisch nur nach rechtlichen und nicht nach medizinischen Kriterien beurteilt werden», schreibt der grösste Schweizer Unfallversicherer.

Kommt hinzu: «Erstmals seit vier Jahren» sprach die Suva im Jahr 2004 weniger Renten aus als im Vorjahr. Die Erklärung der Verantwortlichen: «Wenn sich die Kosten in letzter Zeit stabilisiert haben, dann ist dies nicht auf ein angebliches ‹Abschieben in andere Sozialversicherungen›, sondern auf die positiven Auswirkungen einer frühen und umfassenden Behandlung des Schleudertraumas (New Case Management) zurückzuführen.» Problematische Fälle sollen mit dieser Methode intensiver betreut werden.

Dieser Streit offenbart, wie sehr die Sozialversicherungen unter Spardruck stehen. Bundesrat Christoph Blochers Kampfbegriff «Scheininvalide» strahlt längst in weitere Bereiche aus. So soll der Suva-Arzt, der Tanja Grimaître begutachtet hat, gegenüber ihrem Anwalt Peter Kaufmann gesagt haben, er gehe «von einer Scheininvalidität nach Blocher» aus. Längst wird nicht nur die überschuldete Invalidenversicherung nach Simulanten durchforstet, auch die Unfallversicherung scheint unter verschärfter Beobachtung zu stehen.

Wenn dann, wie im Juli, eine Betrügerbande auffliegt, die Verkehrsunfälle simulierte und Schleudertrauma-Renten in der Höhe von einer Million Franken erschlich, geraten plötzlich auch echte Opfer unter Generalverdacht.

Der Fall Tanja Grimaître ist besonders grotesk, weil die Suva sagt, die junge Frau sei psychisch angeschlagen – die Invalidenversicherung ihr aber psychische Gesundheit attestiert. Grimaître wird aufgerieben zwischen den Mühlsteinen zweier Sozialversicherungen. «Frau Grimaître ist definitiv zum Spielball der Versicherer geworden», stellt Jurist Kaufmann fest. Er befürchtet, dass die Patientin so definitiv in die Invalidität getrieben wird.

Quelle: Gerry Nitsch