Timon Knechtli kann wieder strahlen. Und wieder ohne grössere Beschwerden gehen. Die Operation an der Hüfte des 23-Jährigen war erfolgreich. Am künstlichen Hüftgelenk kommt er deshalb gerade noch einmal vorbei. Der Einsatz der Prothese wurde dank der Operationskunst der Ärzte um 15 bis 20 Jahre hinausgezögert. «Aber früher oder später ist es unumgänglich», erklärt Knechtli. Seine Schmerzen hat er aber wieder besser im Griff. Das war nicht immer so.

Er war jung, talentiert und ehrgeizig, als er mit 18 Jahren in die erste Mannschaft des regionalen 2.-Liga-Klubs FC Lenzburg berufen wurde. Doch mit dem Karrieresprung begann seine Schmerzgeschichte. Die Leiste zwickte, aber das Ziel, in der ersten Mannschaft Fuss zu fassen und seine Karriere voranzutreiben, liess ihm keine Zeit. «Ich habe nie schmerzfrei gespielt», sagt Timon Knechtli rückblickend.

Gespielt hat er trotzdem. Woche für Woche trieb ihn der Ehrgeiz an, Woche für Woche stillte er den Schmerz vor Wettkämpfen mit grosskalibrigem Ponstan: ein halbes Jahr lang, bis die Verschleisserscheinungen am linken Hüftgelenk so gross waren, dass buchstäblich gar nichts mehr ging.

Die Einnahme von Schmerzhemmern ist im Sport weit verbreitet. «Dass Sportler Schmerzmittel nehmen, um trotz Verletzung spielen zu können, ist eindeutig ein Problem», sagt der Sportarzt von Swiss Olympic und der Medizinischen Klinik Bad Ragaz, Beat Villiger.

In der Ehrgeizfalle


Vor allem gefährdet sind nicht die einer hohen Belastung ausgesetzten, aber professionell betreuten Leistungssportler, sondern die Amateure. «Beim leistungsorientierten Breitensportler ist die Gefahr am grössten», bestätigt Sportarzt Phil Jungen von der Sportclinic in Zürich und präzisiert: «Vor allem der Teamsport ist betroffen, denn Konkurrenzkampf und Erfolgsaussichten setzen die Spieler unter Druck.»

Die Aussicht auf Ruhm, Ehre und ein luxuriöses Leben lässt gerade jungen Sportlern jedes Mittelchen recht sein. Der vielbeschworene «gesunde» Konkurrenzkampf entpuppt sich so oft vor allem als schmerzhaft. «In den Nachwuchsteams ist die Bereitschaft gross, Schmerztabletten zu nehmen», weiss Phil Jungen, der auch Fussball-Junioren betreut.

Dass vor allem im Fussball die Problematik des Schmerzmittelmissbrauchs spürbar ist, hat gute Gründe. Mit mehr als 220000 lizenzierten Spielern ist Fussball die beliebteste Ballsportart der Schweiz. Das hat eine enorme Leistungsdichte zur Folge. Der Kampf um Siege und Stammplätze führt jährlich zu 40000 Verletzungen. Zum Vergleich: Im Eishockey sind es 5160 Verletzungen, im Handball 3260. Laut Beat Villiger sind dies neben dem Fussball die gefährdetsten Sportarten für Schmerzmittelmissbrauch.

Bereits bei den Junioren herrscht ein harter Kampf um die Stammplätze. Und selbst in den Niederungen der 4. Liga – wo früher die Bratwurst nach dem Spiel wichtiger war als Punkte – treibt der Ehrgeiz die Feierabendkicker bis zum Äussersten. Heute streicht jeder neue Trainer die Wurst, droht mit Umstellungen und kurbelt so den internen Konkurrenzkampf an.

Vom grassierenden Erfolgs- und Profilierungsdruck gewisser Trainer kann Knechtli ein Liedchen singen. Er erinnert sich noch an ein Meisterschaftsspiel: «Ich konnte kaum noch flanken, mein Bein vibrierte und drohte wegzufliegen. Ich wollte Forfait geben, informierte den Trainer», sagt Knechtli nachdenklich. Doch anstatt ihn unter die Dusche zu schicken, orderte der den jungen Spieler zur Trainerbank. «Das Ponstan lag schon bereit», erinnert sich Knechtli. «Von diesem Trainer», ergänzt er, «bin ich enttäuscht. Er hat genau gewusst, dass ich Schmerzen hatte. Nicht nur bei mir hat er mit Ponstan gewinkt.» In anderen Mannschaften hat er Ähnliches erlebt. Der Trainer habe da zwar niemanden gepusht, «aber wenn die Schmerzmittel schon im Arztkoffer liegen, ist die Versuchung für die Spieler gross».

Wohin es führen kann, wenn die Tschütteler vom FC Hinterpfupfigen ihre Realität mit jener der Beckhams und Zidanes verwechseln, weiss auch Roland Leiss. «Es war schon krass», erinnert sich der Amateurfussballer an seinen alten Verein, «jeder hat vor den Spielen etwas genommen. Einer hat mit Dr.-Vogel-Tabletten die Runde gemacht, andere haben ein Gläschen Wein getrunken, wieder andere haben sich Schmerzmittel reingehauen.» Letzteres auch Leiss. «Ich hatte grosse Ziele, deshalb habe ich ein halbes Jahr lang vor jedem Spiel Schmerzmittel genommen.» Auch er trat – von Trainern und Funktionären ungebremst – in die «Ehrgeizfalle». Die Leistenprobleme kurierte das nicht, und für die Champions League hats trotz «Aufputschmitteln» auch nicht gereicht.

«Was hats gebracht?»


Die Schuld am Pillenmissbrauch wollen weder Knechtli noch Leiss den Trainern zuschieben. «Schmerzmittel werden meist so genommen, dass es niemand bemerkt. Die Spieler handeln letztlich aus eigenem Antrieb», berichten sie übereinstimmend.

Auch Beat Villiger verteilt die Verantwortung auf mehrere Schultern. Für ihn ist es «erstens der Spieler, der für seinen Körper verantwortlich ist, zweitens der Trainer, der auf die Gefahren aufmerksam machen muss, und drittens der Betreuerstab». Doch auf Funktionärsebene ist das Problem kein Thema. «Wir haben keine Hinweise, dass im Breitensport übermässig Schmerzmittel eingenommen werden», äussert sich Barbara Boucherin, Chefin von Jugend+Sport Ausbildungen. Obwohl die meisten Trainerkarrieren über die J+S-Kurse lanciert werden, wird nicht vor der Gefahr des Schmerzmittelmissbrauchs gewarnt. «Sollten wissenschaftliche Studien beweisen, dass der Schmerzmittelmissbrauch im Breitensport ein Problem darstellt, müssten wir reagieren. Aber momentan ist die Fettleibigkeit das dringendere Problem», erklärt Boucherin.

Auch beim Bundesamt für Sport (Baspo) zeigt man sich überrascht: «Der Schmerzmittelmissbrauch im Fussball wurde bisher nicht untersucht und ist uns auch nicht als spezifisches Problem bekannt», erklärt Nadja Mahler vom Fachbereich Dopingbekämpfung. Sollte Handlungsbedarf durch den Fussballverband signalisiert werden, würde die Fachstelle ein eventuelles Engagement prüfen.

Das Problem, das ausgewiesene Sportärzte längst erkannt haben, ist also noch nicht bis zur höchsten Verbandsebene durchgedrungen. Obwohl eine Studie, die am Alpine Marathon in Davos im Jahr 2000 vom Baspo und von der Thurgauer Schaffhauser Höhenklinik durchgeführt wurde, im unverdächtigen Laufsport erstaunliche Resultate zutage förderte. Bei 11,5 Prozent der Getesteten wurde die Einnahme von Schmerzmitteln im Hinblick auf den Lauf nachgewiesen.

Bleibt zu hoffen, dass die Erfahrungen von Timon Knechtli und Roland Leiss Nachahmer abschrecken. Beide fragen sich heute: «Was hats gebracht?»

«Ich musste meinen Beruf an den Nagel hängen und habe täglich Schmerzen», bilanziert Timon Knechtli. Und Roland Leiss meint: «Es ist schon pervers. Eigentlich ist es nur ein Hobby, aber am Montag geht man hinkend zur Arbeit. Ich würde das nie mehr machen.»

Quelle: Stefan Kubli