Das Problem:

Mein Mann und ich sind 18 Jahre verheiratet und suchen schon lange nach einer Ergänzung in unserem Sexualleben. Nun haben wir auf ein Inserat geantwortet, in dem eine Frau Tantra anbietet. Entgegen unserem Wunsch, gemeinsam etwas zu machen, wollte sie uns allein sehen. Mein Mann ging zuerst hin, und die Frau massierte ihn bis zum Orgasmus. Ist das normal beim Tantra?

Rebekka G.

Koni Rohner, Psychologe FSP:

Nein, Ihr Mann ist einer gewöhnlichen Prostituierten in die Hände gefallen. Mit Tantra hat das nichts zu tun.

Echtes Tantra ist etwas ganz anderes: ein über 1000 Jahre alter Weg, das sexuelle Begehren als Mittel zum Erreichen von Weisheit und Gelassenheit zu benutzen. Indische Yogis und Yoginis haben «Techniken» entwickelt und praktiziert, um schnell und direkt Erleuchtung zu erlangen so wie einst Buddha. Man braucht aber weder Buddhist zu sein noch an Erleuchtung zu glauben, um als moderner westlicher Mensch von Tantra profitieren zu können.

Eigentliches Ziel ist nicht das Erlernen raffinierterer Liebestechniken, obwohl eine Bereicherung und Verfeinerung des Liebeslebens eine erfreuliche Nebenerscheinung ist. Ein echter Tantra-Kurs ist auch keine günstige Gelegenheit für Gruppensex oder Partnertausch. Es geht viel mehr um die Fähigkeit, Sexualität bewusst zu erleben. Das heisst nicht unersättliche Gier, nicht blinde Lüsternheit und auch nicht verschämte Triebbefriedigung! Im Zentrum steht freudiges, klares Wahrnehmen im sexuellen, erotischen Spiel insbesondere im Orgasmus.

Die grosse Sehnsucht nach Freiheit

Im Alltag hat unser Ego die Herrschaft: Wir wollen jemand sein. Wir sind voller Stolz, Ehrgeiz, Konkurrenzdenken und Egoismus. Die Kehrseite davon ist, dass wir uns im Grunde einsam fühlen und verdrängte Angst vor Verlassenheit haben. In der Tiefe schlummert aber die Sehnsucht nach Verbundenheit, nach Loslösung aus allen Verstrickungen, nach Freiheit und Selbstvergessenheit. In der sexuellen Ekstase geschieht dies tatsächlich: Die Körpergrenzen lösen sich auf, wir sind für einen Augenblick nur noch vibrierende Energie. Das Ego zerbricht für einen Moment wie eine Porzellanschale.

Wahrscheinlich ist diese Erfahrung, die jedem Menschen möglich ist, der Grund, dass uns Sexualität so fasziniert. Es ist nicht so sehr ein Trieb, der uns antreibt und anzieht, wie Sigmund Freud glaubte, sondern eher eine Sehnsucht nach Überwindung der Getrenntheit. Oder wie es Johann Wolfgang von Goethe leider nur für Männer formulierte: «Das ewig Weibliche zieht uns hinan.» Tantra benutzt also die Sexualität als eine lustvolle und spielerische Meditationsform, die jedes Paar ausprobieren kann, ohne viele Bücher lesen und teure Kurse besuchen zu müssen.

Einige Punkte, auf die es ankommt:

Möglichst grosse Freiheit von Angst, Schuldgefühlen und Scham anstreben.

Sex nicht geschehen lassen, sondern sich für eine bewusste Liebesbegegnung entscheiden.

Sich Zeit lassen und für Ungestörtheit sorgen.

Den Versuch machen, eine meditative Grundhaltung einzunehmen.

Mit Vorurteilslosigkeit und Experimentierfreude auf die Bedürfnisse hören.

Höchstes Ziel für einen echten Tantriker ist es allerdings nicht, nur die Sexualität auskosten zu können. Wie in allen buddhistischen Lehren geht es letztlich um die Überwindung des irdischen Leidens. Das Muster der zerbrochenen Porzellanschale soll aufs ganze Leben angewendet werden. Wenn sich Egoismus, Ehrgeiz, Gier, Stolz, Machtstreben, Gewinnsucht und Rivalität auflösen könnten, bliebe nur noch die Liebe für die Welt, die Natur, andere Menschen sowie für uns selbst. Diesen Zustand der angstfreien Gelassenheit soll Buddha erreicht haben; deshalb nennen ihn die östlichen Lehren Erleuchtung.

Ich glaube nicht, dass ein Mensch eine solche Befindlichkeit halten kann. Aber der Weg dorthin lohnt sich, auch wenn sich nur von Zeit zu Zeit ein solches Gefühl der Gelöstheit und Verbundenheit einstellt. Als Vehikel muss nicht unbedingt die Sexualität dienen. Das Grundmuster lässt sich auf alle Lebensbereiche übertragen: Spirituelle Entwicklung geschieht in der tantrischen Tradition nicht, indem man der Welt den Rücken kehrt, sich ins Kloster zurückzieht, einem Guru nachläuft oder Kurse besucht. Fortschritte gibts nur durch ein bewusstes und vorurteilsloses Erleben des Alltags.