Ein Kind machen? Das können längst nicht alle Männer. Dem Spermium gehts schlecht. Verglichen mit ihren Grossvätern sind heutige Männer nur noch halb so fit, wenn es ums Kinderzeugen geht. Wissen tun das die wenigsten.

Stephan Preiswerk, 33, machte sich nicht die leisesten Sorgen, als er seine heutige Frau Aline, 29, kennenlernte. Er war jung, gesund und sportlich. Für Primarlehrerin Aline war er die Liebe auf den ersten Blick, und auch Banker Stephan war sofort von ihr angetan. «Wir hatten den gleichen Lebensentwurf. Ich bin ein Familienmensch, Aline dachte genau gleich.»

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Unfruchtbar: Der betroffene Vater Stephan Preiswerk erzählt

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Quelle: Beobachter Bewegtbild

Was die beiden nicht wussten: In den letzten 50 Jahren ist die männliche Fruchtbarkeit um 50 Prozent gesunken. Weltweit ist laut aktuellen Zahlen der Weltgesundheitsorganisation WHO jeder sechste Mann unfruchtbar. Das heisst, er ist nicht fähig, bei regelmässigem Geschlechtsverkehr innerhalb eines Jahres ein Kind zu zeugen.

Die Ärzte wunderten sich

Aline und Stephan Preiswerk waren 24 und 28 Jahre alt, als sie sich verlobten, biologisch gesehen im idealen Alter für eine Familiengründung. Aline wurde auch rasch schwanger. Sie verlor aber innerhalb von acht Monaten dreimal ein Kind in der Frühschwangerschaft, später ein viertes.

Der Besuch in der Kinderwunschklinik des Universitätsspitals Basel brachte Überraschendes zutage: Stephan Preiswerks Sperma war so schlecht, dass es die Ärzte wunderte, dass Aline auf natürlichem Weg schwanger geworden war.

Laut dem Bundesamt für Statistik waren 2021 in 35 Prozent der Fälle, in denen Paare kinderlos blieben, die Männer der Grund für eine künstliche Befruchtung, in 27 Prozent die Frauen, in den restlichen Fällen liess sich die Ursache nicht klären, oder beide brachten Einschränkungen mit.

«Der Rückgang der männlichen Fertilität ist dramatisch.»

Hagai Levine, Umweltepidemiologe

Hagai Levine, Umweltepidemiologe an der Hebräischen Universität in Jerusalem, spricht von einer versteckten Pandemie männlicher Unfruchtbarkeit. Der Wissenschaftler leitete ein internationales Forschungsteam, das 2017 und 2022 zwei viel beachtete Studien zur männlichen Fruchtbarkeit veröffentlicht hatte. Sein Fazit: «Der Rückgang der männlichen Fertilität ist dramatisch.»

«Mein Ego hängt nicht von meiner Spermienqualität ab»: Stephan Preiswerk

«Mein Ego hängt nicht von meiner Spermienqualität ab»: Stephan Preiswerk

Quelle: Basile Bornand

Stephan Preiswerk kam nach seiner Spermauntersuchung ins Grübeln: Hatte er den Laptop zu oft auf dem Schoss gehabt? Als Jugendlicher zu wenig Sport gemacht? Der Arzt wusste es nicht. Wie bei den meisten unfruchtbaren Männern fand er auch bei Stephan keine Ursache für die schlechte Qualität der Spermien.

Laut WHO gilt das Sperma eines Mannes auch dann noch als gesund, wenn es aus 96 Prozent verkrüppelten Spermien besteht. Nur gerade 4 Prozent müssen sich Richtung Eizelle bewegen können, um als fruchtbar zu gelten.

Kein einziges Spermium gefunden

Auch Jonas Miller – der, wie auch seine Frau, richtig anders heisst – hatte keinen Grund, an seiner Zeugungsfähigkeit zu zweifeln. Als die Familienplanung für ihn zum Thema wurde, leistete der Toggenburger gerade Zivildienst in einer Kinderkrippe. Er wollte Erfahrungen in der Kinderbetreuung sammeln, bevor er Vater werden würde. Umso grösser war der Schock, als er erfuhr, dass er kein Kind zeugen kann.

Die Ärztin in der Kinderwunschklinik in St. Gallen hatte festgestellt: In Jonas Millers Spermiogramm fand sich kein einziges Spermium. Null. Nada. Auch beim zweiten Versuch nicht. «Azoospermie» lautete die Diagnose, sie bezeichnet das vollständige Fehlen von Spermien im Ejakulat. 

«Für uns brach eine Welt zusammen», sagt er, und seine Frau Laura nickt. Bevor Jonas Millers Spermien analysiert wurden, war sie mehrfach untersucht worden, erst in einem zweiten Schritt waren seine Spermien begutachtet worden. Und dann das: Azoospermie.

«Ein Kind zeugen zu können, ist für viele Männer Teil ihrer Identität, in vielen Kulturen wird Zeugungsfähigkeit mit Männlichkeit gleichgesetzt.»

Brigitte Leeners, Reproduktionsmedizinerin

Nur wenige Männer reden offen über ihre Unfruchtbarkeit. «Ein Kind zeugen zu können, ist für viele Männer Teil ihrer Identität, in vielen Kulturen wird Zeugungsfähigkeit mit Männlichkeit gleichgesetzt», sagt Brigitte Leeners, Direktorin der Klinik für Reproduktions-Endokrinologie der Universitätsklinik Zürich. Sie muss es wissen, begleitet sie doch seit mehr als 25 Jahren Paare mit Kinderwunsch.

Männer mit schlechten Spermien sind in ihrem Alltag ein «ultrahäufiges» Problem. 80 Prozent der Kinderwunschbehandlungen weltweit bestehen darin, dass man Spermien in die Eizelle injiziert. «Das heisst nichts anderes, als dass man dem Spermium den Weg dahin abnimmt.» 

Die Suche nach den Ursachen der männlichen Unfruchtbarkeit gestaltet sich in etwa so schwierig wie jene nach dem wohlgeformten Spermium in vielen der Proben. Sicher ist: Lifestyle-Faktoren wie Rauchen, hoher Alkoholkonsum und starkes Übergewicht beeinträchtigen die Fruchtbarkeit. Und im Alter nimmt sie ab – auch bei Männern. 

Fast zwei Drittel der jungen Männer erfüllen mindestens einen der Normwerte der WHO für eine gesunde Fruchtbarkeit nicht.

Die Biologin Rita Rahban und ihr Kollege Serge Nef, Professor für Entwicklungsbiologie und Genetik an der Universität Genf, forschten zum Thema. Die beiden untersuchten 2019 die Spermien von über 2500 Rekruten und publizierten Resultate, die aufhorchen liessen.

Es ist die einzige grosse Studie, die sich mit der Samenqualität im Land befasst. Sie zeigt, dass beinahe zwei Drittel der jungen Männer mindestens einen der Normwerte der WHO für eine gesunde Fruchtbarkeit nicht erfüllen. Die Schweiz gehört damit im europäischen Vergleich zu den Schlusslichtern.

Im Fokus: Hormonaktive Substanzen

Die Wissenschaftler haben als Ursache Stoffe in Verdacht, die den Hormonhaushalt beeinflussen. Sie sind überall: im Plastik, in der Zahnpasta, im Wasser und in unserem Essen.

An Tieren ist die schädliche Wirkung längst erforscht, und erste Studien belegen den Einfluss auf die männliche Fertilität – vor allem während der Schwangerschaft, wenn der männliche Fötus heranwächst.  

Das Forschungsteam um Rahban und Nef verwendete die Proben der Rekruten, um die Spermienqualität mit den Angaben der Mütter zu vergleichen, die sie zu ihrer beruflichen Tätigkeit während der Schwangerschaft gemacht hatten.

Besonders betroffen waren die Söhne von Müttern, die beruflich während der Schwangerschaft Pestiziden, Phthalaten und Schwermetallen ausgesetzt waren. So wiesen die Söhne von Coiffeusen oder Reinigungsfachfrauen ein geringeres Spermavolumen und eine niedrige Gesamtspermienzahl auf. Die schlechteste Spermienqualität hatten die Söhne von Bäuerinnen.  

«Pestizide sind dazu bestimmt, die Fortpflanzung von Insekten zu unterbinden oder zu beeinträchtigen», sagt Forscher Hagai Levine. «Viele von ihnen schädigen die Spermien von Menschen und Tieren.»

«Die Aussage, wonach die Dosis das Gift mache, trifft nicht mehr zu.»

Carla Hoinkes, Landwirtschaftsexpertin

Carla Hoinkes, Landwirtschaftsexpertin bei der Schweizer Nichtregierungsorganisation Public Eye, bestätigt seine Aussagen: «Bereits kleinste Mengen hormonaktiver Substanzen können gravierende Auswirkungen haben. Die Aussage, wonach die Dosis das Gift mache, trifft nicht mehr zu.»

Sie erzählt von ihren Erfahrungen in Brasilien. Das Land gehört zu den Staaten, in welche die Schweiz Pestizide exportiert, die sie auf ihrem eigenen Boden nicht mehr will. «Schweizer Unternehmen verkaufen grosse Mengen der Substanzen, die bei uns verboten sind», so Hoinkes. Die Folgen, die sie in den Regionen gesehen habe, in denen diese Stoffe verwendet werden, seien schockierend. «Es gibt in der Nähe der Plantagen Mädchen, die im Kleinkindalter Brüste entwickeln.»

Schweiz spart bei Pestiziden nicht

«In der Schweiz sind hormonaktive Stoffe aufgrund einer von der EU übernommenen Verordnung seit 2009 verboten, doch hat man erst damit begonnen, diese überhaupt zu identifizieren. Noch wurde in der Schweiz kein Pestizid wegen seiner fortpflanzungsschädigenden Wirkung aus dem Verkehr gezogen.»

Ein internationaler Vergleich zeigt, dass man hierzulande bei den Pestiziden, die ausgebracht werden, nicht sparsam ist. Laut Johanna Jacobi, Assistenzprofessorin für agrarökologische Übergänge an der ETH Zürich, lag die Schweiz 2020 im europäischen Vergleich auf Platz 6. Nur die Niederlande, Irland, Belgien, Italien und Portugal bringen mehr Pestizide aus.

Mehr Männer als Frauen sind unfruchtbar

Im Jahr 2021 haben schweizweit rund 3500 Paare medizinische Unterstützung bei der Fortpflanzung in Anspruch genommen (Erstbehandlungen). Das waren die Gründe dafür:

Infografik Unfruchtbarkeit 1
Quelle: Anne Seeger und Andrea Klaiber
Die Spermienqualität ist ungenügend

So hoch ist der Anteil an jungen Schweizer Männern, deren Spermien die Fruchtbarkeitskriterien nicht erfüllen:

Infografik Unfruchtbarkeit 2

Infografik Unfruchtbarkeit 2

Quelle: Anne Seeger und Andrea Klaiber

Zurück ins Baselland, zurück zu Stephan Preiswerk. Ob es hormonaktive Stoffe waren, die seine Spermien geschädigt haben, wird er nie erfahren. Damit hat er sich inzwischen genauso abgefunden wie mit seiner schlechten Fertilität. «Mein Ego hängt nicht von meiner Spermienqualität ab.»

Er und seine Frau kommunizierten offen, informierten die Familie, Freunde und Arbeitgeber. Mit verblüffendem Ergebnis: «Fast alle hatten eigene Erfahrungen oder kannten Paare, die auf künstliche Befruchtung angewiesen waren. Enorm!»

Ihm habe sicher geholfen, dass die Lösung bereits auf dem Tisch lag, als die schlechte Nachricht kam. «Es war klar, dass wir eine ICSI brauchen, dass also das Spermium direkt in eine Eizelle injiziert wird – unsere Chancen waren gut.»

Aline Preiswerk wurden 28 Eizellen entnommen, zehn davon befruchtet, acht entwickelten sich. Eine wurde eingesetzt. «Das ist der zweijährige Bub, der im oberen Stock schläft», sagt Stephan Preiswerk im Gespräch. Vor vier Monaten kam Sohn Nummer zwei zur Welt, auch er brauchte Starthilfe. 

Eine Samenspende wäre für Stephan nicht in Frage gekommen: Die Hälfte von ihr und nichts von ihm, das hätte er schwierig gefunden. «Da war die Angst, dass das Kind irgendwann sagen könnte, es habe mich nicht so gern, oder dass ich das Kind nicht so lieben würde, weil es nicht meines ist.»

Krankenkasse bezahlt nur die Insemination

Jonas Miller blieb nur diese Option. Er war es, der seiner Frau den Vorschlag machte, einen Samenspender zu suchen. Sie hätte sich nicht getraut, ihn darauf anzusprechen. 20’000 Franken kosteten sie die Behandlungen, bis der heute zweijährige Sohn das Licht der Welt erblickte.

In der Schweiz gibt es kaum finanzielle Unterstützung für Kinderwunschbehandlungen, auch dann nicht, wenn klare medizinische Gründe wie Azoospermie oder Hodenkrebs vorliegen. Lediglich die Insemination wird von der Krankenkasse übernommen.

Stiftung soll Kinderwunschbehandlungen für alle ermöglichen

Im Hause Preiswerk trudelten Rechnungen in der Höhe von 30’000 Franken ein. Der junge Vater überlegt sich darum, eine Stiftung zu gründen – niemand soll aus finanziellen Gründen auf eine Familie verzichten müssen. Dies sieht auch die WHO so. Als Reaktion auf die kürzlich publizierten Zahlen fordert sie, dass alle einen besseren Zugang zu erschwinglichen Kinderwunschbehandlungen haben sollen.  

Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn sich ihre Mitglieder nicht mehr natürlich fortpflanzen können? Der israelische Forscher Hagai Levine möchte es gar nicht so weit kommen lassen: «Wir sollten eine bessere Zukunft schaffen, indem wir Chemikalien stärker regulieren, unseren Lebensstil verbessern und die öffentliche Gesundheit besser schützen. Wir haben die männliche Fruchtbarkeit vernachlässigt, und das muss geändert werden.»