«Meine Freundin besucht seit einiger Zeit Kurse bei einem angeblichen Schamanen. Sie bezeichnet ihn mit glänzenden Augen als ihren «spirituellen Lehrer». Er selbst sieht sich offenbar gemäss meiner Freundin als eine Art «Tankstelle für spirituelle Energie». Was halten Sie als Psychologe davon?»

Marco G.

Koni Rohner, Psychologe FSP:

Wenn der Mann keine überrissenen Preise verlangt, würde ich mir keine Sorgen machen. Bloss handelt es sich hier nicht um einen Lehrer, weshalb Ihre Freundin sich in diesen Kursen kaum weiterentwickelt. Es mag zwar gut tun, in einem solchen Workshop «aufzutanken», aber echte Selbstentfaltung ist mehr: Sie umfasst Fortschritt, Bewegung, inneres Wachstum. Dazu reicht eine «Tankstelle» nicht. Sie dürfen hoffen, dass Ihre Freundin dies dereinst selber merkt.

Ein wirklich hilfreicher Guru wirkt und handelt wie ein echter Lehrer. Das bedeutet zuallererst, dass er einiges wissen und erfahren haben muss, das der Schüler noch nicht kennt. Und er sollte über die Fähigkeit verfügen, auch dem Schüler zu diesen Erfahrungen zu verhelfen oder ihn zu einem Wissenden zu machen. Das ist gar nicht so einfach, denn man kann Wissen oder gar Weisheit nicht einfach von einem Menschen an den nächsten weitergeben, wie man eine Flüssigkeit in ein anderes Gefäss umgiesst. Um wirklich zu lernen, muss der Schüler einen Erkenntnisprozess machen, ein Aha-Erlebnis erfahren.

Der griechische Philosoph Sokrates meinte, Lehren gleiche der Hebammenkunst. Auch der beste Lehrer kann Lernen nur anregen, nur dabei behilflich sein. Das Wichtigste muss der Schüler selber leisten was übrigens auch Spass macht. Sokrates hat dies erreicht, indem er seinen Schülern «dumme» Fragen stellte, um sie zum Nachdenken anzuregen.

Ein guter Lehrer, in der Volksschule ebenso wie in einem spirituellen Kurs, sollte den Anspruch haben, sich mittel- oder langfristig überflüssig zu machen. Irgendwann hat der Schüler bei ihm ausgelernt und sucht allein weiter. Lehrer, die abhängige Schüler brauchen und die sich unentbehrlich machen, verdienen diesen Namen nicht.

Leider gibt es viel zu viele Gurus und Workshop-Leiter, die ständig von denselben Leuten umschwärmt werden. Obwohl diese sich seelisch und geistig nicht von der Stelle bewegen, saugen sie jahrelang die Worte ihres Meisters in sich auf und bilden sich ein, auf einem spirituellen Weg zu sein. Ein guter Lehrer stellt auch immer die Sache und nie seine Person in den Vordergrund. Er ist nur das Fenster, durch das der Schüler die Welt besser zu sehen lernt, nur der Zeigestock, der auf das Wesentliche hinweist.

Gute Lehrer sind also keine faszinierenden Figuren, sondern sie sind befähigt, das Faszinierende der Wirklichkeit aufleuchten zu lassen oder die Hässlichkeit des Falschen und Schlechten zu zeigen. Zumal alle Menschen unvollkommen sind, auch die grössten Gurus. Gute Lehrer erkennt man daran, dass sie dies wissen und auch nicht verbergen. Sie sind viel weniger (All-)Wissende als ständig Lernende. Ihr Unterwegssein und ihr Suchen sind es, die sie zum Vorbild machen und Schüler anlocken.

Um ein guter Lehrer zu sein, muss man nicht unbedingt ein Diplom haben oder von den Göttern erleuchtet sein. «Lehrer sein» ist auch eine Aufgabe aller Eltern für ihre Kinder. Grundsätzlich kann jeder, der Herz und Verstand hat, für andere zum Lehrer werden: Verstand oder emotionale Intelligenz sind notwendig, um die Sackgasse zu erkennen, in der andere stecken, und Herz, um sie dort nicht stecken zu lassen.