«Ganz im Internet verloren habe ich mich nie», erzählt Hanspeter W., «doch einen grossen Teil des Tages habe ich schon am Computer verbracht.» Der arbeitslose Single leidet an Depressionen und Beziehungsschwierigkeiten, da können unstrukturierte Tage lang werden. Nur wenn er einen Treffpunkt für Alleinstehende besucht oder einen Abend im Verein für depressive Menschen vor sich hat, rückt der Computer etwas in den Hintergrund. Aus finanziellen Gründen musste er die Internetnutzung aber einschränken; jetzt führt er sorgfältig Buch, wie lange er sich im Cyberspace aufhält.

Chatten als Liebesersatz
Als Hanspeter W. vor drei Jahren das Internet entdeckte, tat sich ihm eine «völlig neue Welt» auf. Schnell fand der kontaktscheue Mann auch die einschlägigen Websites. «Doch die erotischen Sites langweilten mich mit der Zeit.» Mehr Gefallen fand er an den Chat-Räumen, wo man zu jeder Tages- und Nachtzeit rund um den Erdball kommunizieren kann.

Der virtuelle Raum ist ein idealer Tummelplatz für einsame Herzen. Dank der Anonymität verwandeln sich diese oft in leidenschaftliche «Cyberlovers». Als sich Hanspeter W. in eine unglückliche Liebesgeschichte verstrickt hatte, halfen ihm die Internetgespräche über Trauer und Frustration hinweg. «Chatten war ein Stück Therapie», sagt er. Das weltweite Netz ist wie ein Schlaraffenland, man kann in der Fülle untergehen oder sich aufgehoben fühlen. Hanspeter W. hat sich jetzt einer Selbsthilfegruppe für Online-Süchtige angeschlossen, weil er seinen Internetkonsum nicht mehr unter Kontrolle hat.

Wann wird die Faszination Internet zur Abhängigkeit? Surfer und Chatter amüsieren sich über sich selbst: Gefährdet ist, wer auf eine witzige Bemerkung im realen Leben mit «lol» antwortet, was in der Chat-Room-Sprache «laut herauslachen» bedeutet. Oder wer tagelang nicht merkt, dass die Katze am Verhungern und der Ehepartner ausgezogen ist.

Viele Surfer verhamlosen die Sucht «Jede Abhängigkeit, von der man weiss, dass sie selbstzerstörerisch ist, ist eine Sucht», sagt die Psychologin Vera Demant. «Die Betroffenen brauchen jedoch eine Zeit der Bewusstwerdung, bis sie das Problem nicht mehr bagatellisieren.» Zur Sucht gehören diverse Verhaltensweisen – etwa stundenlanges Chatten, exzessiver Konsum von Sexseiten, dauerndes Spielen oder zwanghaftes Suchen nach Informationen.

Von den 1,7 Millionen Schweizerinnen und Schweizern, die regelmässig das Internet nutzen, gelten ungefähr drei Prozent als online-süchtig oder -gefährdet. Bereits wird auch intensiv über Internetsucht geforscht. So hat etwa Kimberly S. Young, Professorin an der University of Pittsburgh in Bradford (USA), ein Zentrum gegründet, das Kliniken und pädagogische Institutionen beratend unterstützt. In München existiert eine Ambulanz für Online-Sucht, und in der Schweiz hat Franz Eidenbenz, Fachpsychologe der Beratungsstelle Offene Tür Zürich, eine Selbsthilfegruppe für Internetsüchtige ins Leben gerufen.

Leben mit falscher Identität
Der Eintritt in die virtuellen Diskussionsforen ist einfach: Mit einem «nick name» loggt man sich einfach in den Chat-Raum ein. Jedem Teilnehmer steht es frei, so viel von sich preiszugeben, wie er mag. «Es ist, als hättest du ein zweites Ich», sagt eine Chat-Süchtige. Auch wenn sich viele Chatter mit Witzen und banalen Unterhaltungen zufrieden geben, spielt die Suche nach Liebe und Sex eine grosse Rolle.

Auch Marietta L. verfing sich im Netz. Sie loggte sich unter dem Pseudonym «Turquois» ein und fühlte sich gleich heimisch. «Meistens besuchte ich nachts den Chat-Raum. In "Blacky" fand ich einen einfühlsamen Gesprächspartner. Er gab mir Tipps, wie ich mich in der virtuellen Welt zurechtfinden kann.» Zwischen Marietta L. und «Blacky» entstand eine tiefe Vertrautheit. Sie kommunizierten oft stundenlang miteinander und entdeckten eine Menge Gemeinsamkeiten. Marietta L.: «"Blacky" hat mich völlig in den Bann gezogen. Wir mögen beide dieselbe Musik und sind von der Literatur, der Kultur und der Sprache Japans begeistert.» Der immer zeitaufwändigere Kontakt bekam spukhaften Charakter, als man sich Lieblingsbücher zuschickte, CDs in den Briefkasten legte, eine Autogarage vermittelte – ohne sich je gesehen zu haben.

Über ein Jahr dauerte die Freundschaft via Macintosh. Als sich «Turquois» und «Blacky» schliesslich persönlich trafen, hatten sie sich weit weniger zu sagen als per E-Mail oder im Chat-Raum.

Eine prickelnde Spannung entsteht, wenn sich Wunschträume im Internet verbalisieren lassen. Die Chatter schlüpfen im Schutz der Anonymität in fremde Rollen und knüpfen hemmungslos Kontakte. In den USA ist von «Cyber-Witwen» die Rede: Ehepartner, die plötzlich ihre Gatten ans Internet verloren haben. «Mein Mann hat seine sexuellen Fantasien mit einer Frau am anderen Ende des Landes ausgelebt. Er war besessen davon und hat mich überhaupt nicht mehr wahrgenommen», erzählt eine Frau, die sich einer Selbsthilfegruppe für Angehörige angeschlossen hat.

In ihrem Buch «E-mail – A Love Story» beschreibt die US-Autorin Stephanie D. Fletcher die oft fatalen Verstrickungen von Online-Liebschaften. Das Buch endet damit, dass die Hauptfigur Katherine ihrem Chat-Lover schreibt: «John, ich habe dich missbraucht, um die Leere in mir zu füllen. Es ist nicht deine Leidenschaft, die ich brauche, das ist nur Ablenkung. Meine Sehnsucht hat mich vom Elend meiner Depression abgelenkt. Sagen wir jetzt Adieu.»

Vor allem Jugendliche gefährdet
Wo liegt die Grenze zwischen massvoller Internetnutzung und Online-Sucht? «Von Sucht sprechen wir dann, wenn sich der Mittelpunkt des Lebens vom realen Leben hin zum virtuellen verschiebt», sagt der Psychologe Franz Eidenbenz. «Dabei werden soziale Kontakte zugunsten des Internets vernachlässigt.» Da vor allem Jugendliche zur Risikogruppe gehören, sollten schon in der Schule mögliche Folgen des Internetmissbrauchs diskutiert werden.

Eidenbenz: «Ziel muss es sein, eine Kultur im Sinne von mehr Wissen und Bewusstsein auch über die Gefahren des Internets aufzubauen.»

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Dieser Beitrag erscheint in Zusammenarbeit zwischen Beobachter und Fernsehen DRS. Redaktionelle Verantwortung: Balz Hosang und Monika Zinnenlauf