Das Schlauchboot ist umzingelt von Haiflossen, an Bord herrscht Hektik. Der Fotograf David Hettich schliesst den Tauchanzug, zieht Flossen und Maske an, lässt sich ins Wasser fallen – und schon ist er mittendrin im grössten Fressen der Welt, in der grössten Ansammlung von Raubtieren auf diesem Planeten.

Dutzende von Schwarzspitzen- und Bronzehaien schiessen durchs aufgewühlte Wasser. Delfine und Brydewale jagen am Taucher vorbei. Kaptölpel stürzen sich mit 160 Kilometern pro Stunde schnabelvoran ins Wasser. Sie alle haben nur ein Ziel: sich den Bauch mit Sardinen vollzuschlagen. Millionen dieser Fische bilden vor der Ostküste Südafrikas jedes Jahr riesige Schwärme, um in die nördlicher gelegenen Eiablage-Gebiete zu schwimmen. «Sardine Run» nennt sich das Spektakel, das zu den grossartigsten Naturereignissen zählt.

David Hettich kann das Schauspiel innerhalb nur eines Morgens dokumentieren: wie die Sardinenschwärme in Sekundenschnelle die Richtung ändern, gelenkt von einer unsichtbaren Kraft. Wie Delfine versuchen, die Schwärme mit Luftblasen aufzutrennen. Und wie imposante Haie durch die Kugeln aus silbernen Leibern hindurchschiessen und immer wieder ganze Mäuler voller Sardinen schnappen.

Ein Buch ruinierte den Ruf der Haie

Für den 33-jährigen Fotografen aus dem Schwarzwald gehört jener Morgen im Sommer 2010 zu den Schlüsselmomenten seiner Karriere. Es gelingen ihm nicht nur perfekte Bilder, er geniesst auch die hautnahe Begegnung mit den Haien – diesen archaischen Raubfischen, die in den Augen vieler noch immer als Monster und Menschenfresser gelten. «Es ist einfach Adrenalin pur, wenn im Getümmel plötzlich ein grosser Hai auf dich zuschiesst und erst im letzten Moment abdreht», sagt Hettich.

Angst verspürte er damals nicht. «Ich habe auf meinen Tauchgängen viele Haie gesehen, aber nie hätte mich einer angegriffen», sagt er. Um ihr schlechtes Image zu korrigieren, berichtet Hettich in aller Welt von seinen Begegnungen mit den Haien.

Für den Mythos vom Hai als gefährlicher Bestie ist vor allem das Buch «Jaws» von Peter Benchley verantwortlich, das in den 1970er Jahren erschien. Steven Spielbergs Verfilmung des Stoffs («Der Weisse Hai») zementierte das Klischee noch. Seither ist es fast nicht mehr aus der Welt zu schaffen, obwohl es weltweit pro Jahr «nur» zu fünf bis zehn tödlichen Unfällen mit Haien kommt und 40 bis 60 Personen verletzt werden. «Haie sind zwar beeindruckende Raubtiere», sagt Alexander Godknecht, Präsident der in der Schweiz domizilierten Hai-Stiftung, «doch Menschen passen nicht in ihr Beutespektrum.»

Ohnehin warnt der Meeresbiologe vor Generalisierungen. «Es gibt wahrscheinlich über 500 Haiarten, und jede Art lebt wieder anders.» Während sich die meisten Haie von Fischen ernähren, jagen andere nach Krustentieren oder knacken gar Austern. Und wieder andere wie der 14 Meter lange und rund 12 Tonnen schwere Walhai filtern bloss Plankton aus dem Wasser.

Elektrosinn hilft, Beute aufzuspüren

Solchen riesigen «Staubsaugern» ist Hettich schon mehrmals begegnet. Etwa vor der Weihnachtsinsel im Indischen Ozean. «Whaleshark!», schrie der einheimische Bootsfahrer aufgeregt. Hettich glitt wie in Trance ins Wasser – und schon schwamm das gigantische Tier mit weit geöffnetem Maul auf ihn zu. «Natürlich wusste ich, dass Walhaie sich von Plankton ernähren, trotzdem sträubten sich meine Nackenhaare.» Ob sich so der biblische Jonas gefühlt hat, kurz bevor er vom Wal (oder war es ein Walhai?) verschluckt wurde?

Allen Haiarten gemeinsam ist, dass sie nicht nur fünf, sondern sieben Sinne besitzen. Eine Besonderheit sind die Elektrorezeptoren, mit denen sie feinste Änderungen in elektrischen Feldern wahrnehmen können. Alexander Godknecht hat schon gesehen, wie die Tiere diesen Sinn einsetzen. «Einmal beobachtete ich einen Hammerhai, der langsam über dem Sandboden schwamm. Plötzlich stiess er nach unten und packte eine Flunder, die im Sand vergraben war.» Er konnte den versteckten Fisch nur dank dem Elektrosinn erkennen. Die Flunder hatte keine Chance: Jede noch so feine Muskelbewegung erzeugt ein kleines elektrisches Feld. Der Elektrosinn sitzt in den «Lorenzinischen Ampullen» im Bereich der Schnauze. Es wird angenommen, dass diese Organe den Haien auch als Kompass dienen, wie folgendes Beispiel zeigt: Tausende von Hammerhaien, die nördlich der Galapagosinseln in grossen Schwärmen jagen, schwimmen jedes Jahr 500 Kilometer weit in Richtung Costa Rica oder Kolumbien. «Dabei orientieren sie sich anhand von Magnetfeldern», sagt Hettich. Das Gebiet werde deswegen auch «Goldenes Dreieck der Haie» genannt. Hettich hat diese Wanderungen dokumentiert: «Ich schwamm mit bis zu 300 Hammerhaien mit. Nie wurde ich dabei angegriffen – obwohl Hammerhaie zu den gefährlicheren Arten zählen.»

Der zweite Sinn, den uns Haie voraushaben, ist das Seitenlinienorgan. Dabei handelt es sich um wassergefüllte Kanäle, die entlang der Flanken unter der Haut liegen. Mit ihnen registrieren die Fische noch auf 100 Meter Entfernung feinste Wasserbewegungen. Zusammen mit den extrem feinen Nasen – Graue Riffhaie riechen Blut noch in einer Verdünnung von eins zu zehn Milliarden –, äusserst feinen Ohren und guten Augen machen diese Extrasinne die Haie zu perfekten Raubfischen.

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Gebiss mit bis zu 3000 Zähnen

«Fisch» ist allerdings eine etwas irreführende Bezeichnung. Denn die Gruppe der Haie spaltete sich schon vor rund 400 Millionen Jahren von den restlichen Fischen ab. Zusammen mit den Rochen und den Chimären bildet sie heute die Tierklasse der Knorpelfische. Der Name rührt daher, dass ihr Skelett – anders als bei den übrigen Fischen – nicht aus Knochen, sondern aus Knorpel besteht. Dafür haben Haie bis zu 3000 Zähne, die in 6 bis 20 Reihen angeordnet sind. Sind die äussersten stumpf, rückt eine neue Zahnreihe nach. Einem Tigerhai wachsen somit in seinem Leben bis zu 40'000 Zähne.

Einzigartig ist schliesslich auch die Fortpflanzung. Rund zwei Drittel der Hai-Arten legen keine Eier, sondern sind lebendgebärend. Dabei entwickeln sich die Eier im Uterus der Mutter, und auch die Embryonen schlüpfen im mütterlichen Körper. Bei einigen Arten frisst das Erstgeborene die ungeschlüpften Geschwister noch im Mutterleib auf.

Grau- und Hammerhaie versorgen die Embryos gar durch eine Plazenta und eine Nabelschnur – genau so, wie es Säugetiere tun. Kleinere Arten hingegen legen ihre Eier ganz nach Fischmanier im Wasser ab. Man erkennt die Haieier an ihren sonderbaren spiraligen oder eckigen Formen und an den Anhängseln, mit denen die Tiere sie an Pflanzen und Felsen befestigen.

Diese Besonderheiten vermögen zu erklären, weshalb Biologen von den Haien besonders fasziniert sind. Für David Hettich ist klar: «Sie verdienen Achtung, nicht Furcht.» Trotzdem wurden die Jäger in den letzten Jahrzehnten immer mehr zu Gejagten. Über 100 Millionen Haie fallen dem Menschen jährlich zum Opfer. Die meisten von ihnen werden wegen ihrer Flossen gejagt – Haifischflossensuppe gilt in asiatischen Ländern als Delikatesse.

Gleichzeitig sind Haie auch eine Touristenattraktion. So etwa vor der Küste Südafrikas, in der Nähe Kapstadts, wo die Touristen hautnah dem berüchtigten Weissen Hai begegnen können. Um die 200 bis 300 Exemplare der vom Aussterben bedrohten Art leben hier; diese gilt neben dem Tiger- und dem Bullenhai als besonders gefährlich. Weisse Haie haben zwar nicht das Bedürfnis, Menschenfleisch zu fressen, sind aber an den meisten Haiunfällen beteiligt.

Vor Kapstadt haben es die Tiere auf die rund 50'000 Robben abgesehen, die auf der kleinen Insel Dyer Island leben. Sie verschmähen aber auch die Köder nicht, die ihnen lokale Tourveranstalter vorsetzen. Schwimmen die Haie dann heran, werden die Touristen in Metallkäfigen ins Wasser hinabgelassen, wo sie dem Fressgelage aus nächster Nähe beiwohnen können. Auch David Hettich hat so schon einen Weissen Hai fotografiert (siehe Fotogalerie). Lieber ist ihm aber, den Raubfischen in freier Wildbahn zu begegnen. «Wenn ein Hai auf mich zuschwimmt, spüre ich, dass er mich mit all seinen sieben Sinnen inspiziert. Er ist neugierig und ängstlich zugleich», sagt Hettich. «Sobald der Hai aber Luftblasen sieht oder hört, dreht er sofort ab.» Von wegen gefährliche Bestie.

«Abenteuer Ozean: Die letzten Geheimnisse des Meeres»

Erleben Sie David Hettich live: Der Tauchabenteurer hat sich mit seinem Team von Kameraleuten und Ozeanspezialisten über zehn Jahre lang auf die Suche nach den letzten Geheimnissen des Meeres begeben. Das Ergebnis ist eine einzigartige Hommage an unseren Blauen Planeten, wie sie nie zuvor im deutschsprachigen Raum zu sehen war. Weitere Infos:

www.abenteuer-ozean.de

Foto- und Filmjournalist David Hettich

David Hettich, Jahrgang 1981, hat in mehr als 2500 Tauchgängen alle Ozeane der Welt kennengelernt. Er veröffentlichte zahlreiche Bilder und Filme in Kalendern, Büchern, Werbekampagnen und Magazinen.

Quelle: David Hettich