Beobachter: Bei Paul Grüningers Beerdigung gedachte man seiner mit Schillers Wort aus «Wilhelm Tell»: «Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt.» Ist Grüninger ein neuer Tell?
Peter von Matt: Der Begriff des Helden ist heute zweideutig geworden. In der Tradition ist der Held einer, der sein Leben einsetzt für seine Heimat. Grüninger entspricht diesem Modell insofern, als er die Interessen seiner Familie und seiner selbst zurückstellte, um viele Menschen vor dem Tod zu retten. Er hat dafür seinen eigenen gesellschaftlichen Ruin in Kauf genommen. Die politische Schweiz hat sein Leben zerstört. Er ist ein Märtyrer der Menschlichkeit und Nächstenliebe, wie wir wenige haben in der Geschichte.

Beobachter: Zeitgenossen schildern Grüninger als eher Braven. Taugt so einer zum klassischen Helden?
von Matt: Der «klassische Held» ist ein Klischee. Grüninger zeigt, dass ein ganz gewöhnlicher Bürger zu Taten fähig ist, vor denen wir den Hut ziehen müssen. Weil er sein Gewissen über die Befehle der Vorgesetzten stellt.

Beobachter: «Wer wie ich wiederholt Gelegenheit hatte, die herzzerbrechenden Auftritte, das Zusammenbrechen der Betroffenen, das Jammern und Schreien von Müttern und Kindern, die Selbstmorddrohungen anzuhören sowie Selbstmordversuche anzusehen, der konnte schliesslich nicht mehr mittun», sagte Grüninger. Ist das die Sicht eines unverbesserlichen Humanisten, der die Augen vor der Realität verschliesst?
von Matt: Der Ausdruck «ein unverbesserlicher Humanist» wäre in diesem Fall von einem erschreckenden Zynismus. Die Rettung von verzweifelten Müttern und Kindern hat mit der Situation der damaligen Schweiz nichts zu tun. Kein Schweizer hätte ein Stück Brot weniger bekommen, wenn man jene, die man an der Grenze zurückgewiesen hat, hereingelassen hätte. Ich war in der Kriegszeit ein kleines Kind. Es gab vieles nicht, was wir gern gehabt hätten. Aber Hunger hatte ich nie. Wer die Flüchtlingspolitik mit der politischen Bedrohung rechtfertigt, ist ein Geschichtsfälscher.

Beobachter: In anderen Ländern werden Menschen wie Grüninger als Helden verehrt. Warum tut sich die Schweiz bis heute damit schwer?
von Matt: Ein Land muss den Mut haben, sich seinem eigenen Fehlverhalten zu stellen. Wenn es das nicht kann, soll es sich auch nicht dessen rühmen, was es gut und grossartig gemacht hat. Die Schweiz hat vieles gut und grossartig gemacht. Sie hat das Land taktisch, diplomatisch und militärisch geschickt durch extrem schwierige Jahre gebracht. Sie kann es sich also leisten zu sagen, dieses aber haben wir schlecht gemacht. «Die Wahrheit wird euch frei machen», heisst es in der Bibel. Wer die Wahrheit über sich selbst nicht erträgt, ist nicht nur feige, sondern ein seelisch Gefangener.

Beobachter: Erst nach 50 Jahren rehabilitierte man ihn.
von Matt: Über den Zeitpunkt der Rehabilitation Grüningers sollte man nicht lange debattieren. Wichtig ist, dass es einmal geschehen ist. Und tatsächlich begann die Kritik an der Schweiz zur Hitlerzeit noch während des Krieges, etwa beim grossen Theologen Karl Barth, 1944.

Beobachter: Die Journalistin Klara Obermüller fragte bei der Aufarbeitung von Grüningers Geschichte vor Jahren, ob man nicht wenigstens – symbolisch – die Frage nach den Schuldigen stellen müsse. Muss man das?
von Matt: Man soll sich nicht im Nachhinein zum Richter aufpumpen. Aber die schlichte Wahrheit muss auf den Tisch.

Beobachter: Der Bundesrat begründete 1938 seine Asylpolitik folgendermassen: «Abgesehen von der Lage unseres Arbeitsmarktes gebietet schon der Grad der Überfremdung die strikteste Abwehr solcher Elemente. Wenn wir einer unseres Landes unwürdigen antisemitischen Bewegung nichtberechtigten Boden schaffen wollen, müssen wir uns mit aller Kraft und, wo es nötig sein sollte, auch mit Rücksichtslosigkeit der Zuwanderung ausländischer Juden erwehren.» Was sagen Sie dazu?
von Matt: Das ist schrecklich. Denn das heisst: Wir sind nicht antisemitisch, aber wenn wir mehr Juden in die Schweiz lassen, könnten die Schweizer zu Antisemiten werden, und das wäre unseres Landes unwürdig. Dabei ging es nicht um Juden, sondern um Menschen. Nach der Bundesverfassung musste die Schweiz alle politisch Verfolgten aufnehmen. Nun erklärte unsere Regierung, die Juden seien gar keine politisch Verfolgten, sie würden ja nur wegen der Rasse verfolgt. Damit anerkannte man offiziell den Rassenbegriff der Nazis. Das war die böse Tat. Abertausende von Deutschen, die seit Generationen als Protestanten oder Katholiken oder Religionslose lebten und nicht einmal mehr wussten, dass ihre Vorfahren einst jüdischen Glaubens waren, wurden auf Diktat Hitlers plötzlich «Juden». Und unser Land hat das anerkannt. Das ist quälend. Alle Rassengesetze der Deutschen waren politische Gesetze, alle deswegen Verfolgten waren politisch Verfolgte. Wir haben also unsere eigene Verfassung gebrochen.

Beobachter: War da nicht immer Heinrich Rothmund dahinter, der oberste Chef der Fremdenpolizei?
von Matt: Man muss sich hüten, einen Einzelnen zum Sündenbock zu machen. Rothmund hat viel zu verantworten, aber über und hinter ihm standen immer der Bundesrat und das Parlament. Es ist sehr merkwürdig, dass die grosse Parlamentsdebatte über die Flüchtlingspolitik vom 22. und 23. September 1942 in den Medien nie zur Sprache kommt. Damals wurde die Flüchtlingspolitik vom Schweizer Parlament offiziell abgesegnet, inklusive Reglement über «die Juden». Es war eine heftige Debatte, auch mit scharfer Kritik an der geübten Praxis, aber zuletzt entschied die eindeutige Mehrheit. Ich verstehe nicht, warum diese zwei Tage in unserer Öffentlichkeit tabu sind. 2012 jährten sie sich zum 70. Mal. Ich erwartete viele Artikel dazu. Zu lesen war kein Wort.

Beobachter: Im Film «Akte Grüninger» sagt Grüninger, wir sässen alle im selben Boot – und kritisiert die Haltung, das Boot sei voll. Wie aktuell ist das?
von Matt: Ich möchte das Studium der Geschichte nicht vorschnell mit den Problemen der Gegenwart verknüpfen. Sonst wird aus der Suche nach der Wahrheit politische Propaganda, wobei sich jeder aus der Geschichte herausgreift, was ihm selber nützt. Wenn die Schweiz die Tatsachen der Hitlerzeit ruhig studiert und die Schweizerinnen und Schweizer sich eigene Gedanken dazu machen, ist das wichtiger, als wenn man in der Vergangenheit nach Argumenten für heutige Debatten sucht. Aber dass das Wort «Flüchtling» ein Schicksalswort für die Schweiz ist, das sollte man immer wissen.

Beobachter: Ist es ein ironischer Zufall, dass der St. Galler SP-Regierungsrat Valentin Keel 1939 Grüninger fallen liess und sein Parteikollege Paul Rechsteiner 1993 seine Rehabilitation durchsetzte?
von Matt: Die Sozialdemokratie war der offiziellen Flüchtlingspolitik gegenüber immer kritischer als das politische Bürgertum. Das könnte man in der Debatte von 1942 nachlesen. Rechsteiner gegen Keel auszuspielen halte ich für wenig fruchtbar.

Beobachter: War Paul Grüninger wie heute Edward Snowden einer, der aus Gewissensgründen Widerstand geleistet hat?
von Matt: Wer Paul Grüninger nicht als aktuell erlebt, ist auf einem Auge blind. Aber vielleicht ist es so, dass die heutigen Helden so harmlos aussehen wie Grüninger und Snowden. Ihre Grösse steckt in ihren Seelen.

Fluchthilfe: Die Retter an der Grenze

Paul Grüninger wurde posthum zum Filmhelden, weil er im Zweiten Weltkrieg illegal Tausende von Juden vor dem Tod bewahrt hatte. Er ist nicht der einzige Schweizer Fluchthelfer: Hunderte haben an der Grenze Menschenleben gerettet.
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