Unmittelbar nach Ladenöffnung ist selten viel los. Jener Montag Ende April schien da keine Ausnahme zu bilden. Ein paar wenige Kunden waren im Laden, allesamt im oberen Stock. Ich selbst sass wie immer im Erdgeschoss und hatte gerade meinen PC aufgestartet. Die automatische Tür öffnete sich, und der nächste Kunde betrat den Laden. Aus Gewohnheit blickte ich kurz auf, wollte mich sogleich wieder meiner Arbeit widmen. Doch irgendetwas hinderte mich daran. War es wahr, was ich eben gesehen hatte? Ich blickte nochmals Richtung Eingang. Tatsächlich: Eine ausgewachsene Kuh hatte gerade meinen Laden betreten. Sie musste vom Kälbermarkt abgehauen sein, der zu dieser Zeit auf dem Expo-Areal stattfand.

Ich lächelte etwas irritiert. Ich war froh, dass sie sich bis zu diesem Zeitpunkt anständig aufgeführt hatte. Die paar Stufen zur Eingangstür hinauf, danach durch die Tür. Erstaunlich eigentlich. Wenige Augenblicke später war Schluss mit Lächeln. Wild stürmte das Tier durch den Laden und hinterliess eine Spur der Verwüstung. Überall lagen Scherben und Reste von zerstörten Lampen, denn die Kuh hatte es vor allem auf die Lampenabteilung abgesehen.

Ein verspäteter Aprilscherz?

Ob ich Angst gehabt habe? Dafür hatte ich gar keine Zeit. Zuerst war ich verwundert über die Situation, danach überlegte ich, was ich weiter zu tun hatte. Ohne grosses Zögern entschied ich mich für den normalen Dienstweg – dass meine Situation alles andere als normal war, darüber zerbrach ich mir nicht den Kopf. Ich rief den zentralen Coop-Sicherheitsdienst an, der mir meine Schilderungen ohne Anzeichen von Zweifel glaubte. Ganz im Gegensatz zum Regioleiter oder der Geschäftsführung. Die informierte ich später. Sie vermuteten im ersten Moment einen verspäteten Aprilscherz. Man kennt mich halt als humorvollen Typen. In jener Situation war mir allerdings überhaupt nicht nach Scherzen zumute. «Ich habe ein Tier im Laden», berichtete ich möglichst schonend. Als ich dann sagte, dass es sich um eine Kuh handle, war es am anderen Ende der Leitung zuerst einmal still. Ungläubig dann die Nachfrage: «Eine Kuh?» Jawohl.

Der Angestellte des Sicherheitsdienstes erteilte mir am Telefon klare Ratschläge: keine weiteren Leute in den Laden lassen und alle, die sich bereits darin befinden, in den oberen Stock bringen. Das schien auch mir die einzig logische Lösung, denn die Kuh rannte so wild im Laden herum, dass ich nicht einmal versuchte, sie rauszujagen. Dennoch war das Evakuieren nicht ganz einfach, denn der Lärm sorgte für grosses Interesse an den Geschehnissen.

Trotzdem gelang es mir, die sieben oder acht anwesenden Angestellten nach oben zu bringen. Von dort konnten wir das Tier aus sicherer Entfernung beobachten – und ich hatte Zeit, meine Gedanken zu ordnen. In erster Linie war ich sehr erleichtert, dass nicht mehr Leute im Laden waren, alle in Sicherheit waren und niemand verletzt wurde. Dann galten meine Gedanken dem Schaden. Auch die Putzarbeiten beschäftigten mich: Die Kuh hatte keine Hemmungen, den ganzen Laden mit ihren Fäkalien zu verdrecken. Und trotzdem: Niemand war dem Tier wirklich böse, als es nach einer halben Stunde den Laden selbständig und freiwillig wieder verliess. Im Gegenteil: Wir, die ihm von nahem in die Augen geschaut haben, bedauern den Ausgang der Geschichte. Wir hätten uns ein Happy End für die Kuh gewünscht. Am nächsten Tag entnahmen wir der Presse, wie die Geschichte weitergegangen war: Nach dem Verlassen des Ladens irrte die Kuh durch Thun, gefolgt von Polizei, Tierarzt, Jäger und Schaulustigen. Als sie sich dann der Autobahn näherte, musste der Jäger das Tier erschiessen. Zu gross war die Gefahr, dass es sich mitten auf die Autobahn gestellt hätte. Nicht auszudenken, was dann passiert wäre. Aber so ist es, bis auf das traurige Ende des Tieres, noch einmal gut gegangen.

Für aussenstehende Personen sind meine Gedanken in dieser Situation wahrscheinlich nur schwer nachvollziehbar. Auch ich hätte wohl nur gelacht, wenn mir jemand eine solche Geschichte erzählt hätte. Schliesslich kennen viele Leute Kühe als friedliche Tiere. Anders diese: Sie schien richtig gefährlich, als sie durch den Laden stürmte. Vermutlich sei die Kuh krank gewesen, hiess es später in der Zeitung.

Kein Grund zur Besorgnis

Mittlerweile erinnert nur noch eine zerbrochene Scheibe im Eingangsbereich an den tierischen Amoklauf. Auch ist das Schaufenster noch etwas mager ausgestattet. Wir mussten viele Dinge, die zu Bruch gegangen waren, nachbestellen. Bald sollte die Ware eintreffen und die Scheibe geflickt sein. Dann ist optisch wieder alles beim Alten. Was die Kosten angeht, haben sich meine anfänglichen Sorgen gelegt: Für alle Schäden kommt der Halter der Kuh auf.

Die Leute fragen mich, ob ich jetzt einen Schock oder eine Art Trauma hätte, so wie man es jeweils bei Opfern gewöhnlicher Überfälle hört. Das ist aber nicht der Fall. Und Angst vor einem neuen solchen Zwischenfall habe ich auch nicht. Denn Kühe im Laden bleiben wohl die Ausnahme.