Vorwürfe gegen Blindenorganisation
Ein Kadermann der Blindenorganisation SBS soll Alltagsarbeit als Zusatzaufwand abgerechnet haben. Die SBS-Chefin widerspricht.
Veröffentlicht am 18. August 2015 - 11:05 Uhr
Jessica Reichlin* war «zutiefst schockiert». Sie suchte ihren Mitarbeiter Felix Gloor*, den sie in der Aufnahmekabine lesen hörte. Doch als sie die Tür zur Kabine aufstiess, stellte sie fest: Gloor war nicht da, er sprach ab Tonband. Jessica Reichlin ist stark sehbehindert – ihr Verdacht: Gloor hatte ihr vorgetäuscht, dass er in der Kabine am Lesen war. Später bekam sie mit, dass Gloor zu jenem Zeitpunkt mit anderen Arbeiten beschäftigt gewesen sein dürfte. So hatte er wohl gleichzeitig im Stundenlohn und als Festangestellter verdient.
Jessica Reichlin war damals Aufnahmeleiterin bei der Schweizerischen Bibliothek für Blinde, Seh- und Lesebehinderte (SBS). Sie hat den Vorfall schriftlich festgehalten und bestätigt ihre Schilderung auf Nachfrage des Beobachters. Gloor sagt, er höre von den Vorwürfen zum ersten Mal und könne sich diese nicht erklären.
Die Geschichte liegt Jahre zurück. Dass sie nicht vergessen ist, liegt daran, dass mehrere Insider belastende Vorwürfe gegen Felix Gloor erheben: Er habe jahrelang Arbeit vergütet bekommen, ohne die entsprechende Leistung dafür zu erbringen.
Ein internes Problem, könnte man meinen. Nun ist die SBS aber eine gemeinnützige Institution. Sie erhielt 2014 rund 5,5 Millionen Franken vom Bundesamt für Sozialversicherungen und mehrere Millionen Franken aus Spenden. Da darf erwartet werden, dass ganz genau hingeschaut wird, was und wie abgerechnet wird.
«Wir haben die Vorwürfe gegen ihn genau geprüft, und wir konnten kein Fehlverhalten feststellen.»
Flavia Kippele, Leiterin der SBS
Kernaktivität der SBS ist die Produktion von Hörbüchern für Blinde und Sehbehinderte. Sie beschäftigt nebst 75 Festangestellten etwa 90 Freelance-Sprecher, die zu einem Stundenansatz von rund 44 Franken die Texte einlesen, und erbringt damit eine wichtige Dienstleistung für Sehbehinderte. Auch Festangestellte mit Teilzeitpensen lesen im Stundenlohn Bücher ein, laut Insidern ausserhalb ihrer regulären Arbeitszeit – um Konfusionen zu vermeiden.
Felix Gloor begann 1999 als freischaffender Sprecher bei der «Blindenhörbücherei». 2004 wurde er Leiter des Hörbuchstudios – laut Insidern trotz wenig Büropräsenz. Seither ist Gloor Kadermitarbeiter mit einer 100-Prozent-Anstellung. Gleichzeitig las er, gewissermassen als sein eigener Auftraggeber, jahrelang weiterhin Bücher ein. Dies tat er, obwohl separat vergütet, auch während seiner regulären Arbeitszeit. Screenshots aus dem SBS-Zeiterfassungssystem für Januar bis Ende April 2013, in die der Beobachter Einsicht hatte, belegen dies.
Wann immer Gloor in den Stundenlohnmodus wechselte, musste er sich im Zeiterfassungssystem für die Festanstellung abmelden. Dies habe er stets korrekt getan, sagt Gloor: «Zu doppelter Bezahlung kam es nie.»
Von 2003 bis Ende 2013 bezog Gloor so neben seinem Vollzeitlohn Entschädigungen auf Stundenbasis. Diese betrugen laut SBS-Geschäftsführerin Flavia Kippele pro Jahr durchschnittlich 2500 Franken. Rechnet man die in den Screenshots erfassten Stunden hoch, kommt man auf über 6000 Franken pro Jahr.
Auf die Frage, weshalb ein 100-Prozent-Angestellter Zusatzstunden verrechnen konnte, antwortet Kippele: «Ein Zusatzvertrag im Stundenlohn ist rechtlich völlig korrekt.»
Insider störten sich an dieser Praxis. Auch darum, weil sie über mehrere Jahre den Eindruck hatten, Gloor erfülle sein reguläres Arbeitssoll gar nicht. Er sei sehr häufig ohne plausible Erklärung ausser Haus gewesen, habe grosse Teile seiner Arbeit delegiert, lauten die Vorwürfe. Für Kippele ist dieser Eindruck «falsch». Er sei vielleicht deshalb entstanden , weil « Herr Gloor wegen einer schweren Krebserkrankung für längere Zeit reduziert arbeiten musste», vermutet die SBS-Leiterin.
Auch Gloor selber erklärt seine häufigen Abwesenheiten im Nachhinein schriftlich mit seinen damaligen Gesundheitsproblemen: «Im fraglichen Zeitraum musste ich mich mehreren Krebstherapien unterziehen.»
Für das Jahr 2013 sei Gloors Gleitzeitsaldo im Minus gewesen, räumt die SBS-Chefin ein, aber er habe sein aufgrund der Erkankung negatives Gleitzeitsaldo «längst ausgeglichen».Allerdings ist ein Kranker im Normalfall krankgeschrieben und generiert daher keine Minusstunden. Bestätigt ist: 2013 bezog Gloor einen stundenbasierten Zusatzlohn von 4000 Franken, ohne sein Arbeitssoll erfüllt zu haben. Wie die Situation in den anderen Jahren war, ist offen.
Doch wofür wurde Gloor im Stundenlohn entschädigt? Die Screenshots zeigen, dass er regelmässig Aufträge wie «Produktion Hörbuch» verrechnete. Solche Arbeiten hätten zu Gloors Fixjob gehört, sagen Insider, der Stundenlohn werde hingegen für das Lesen der Hörbücher gezahlt.
Hat man bei den Abrechnungen zu wenig genau hingesehen? SBS-Chefin Kippele verneint. Gloors Stundenlohnbezüge seien korrekt gewesen. Er habe «in dieser Zeit an Aufträgen in direktem Zusammenhang mit dem Sprechbetrieb gearbeitet».
Mehrmals gab Gloor an, ab 17 Uhr mit «Aufsprache» beschäftigt gewesen zu sein, was üblicherweise im Aufnahmestudio geschieht. Dort haben ihn Augenzeugen dann aber nicht gesehen. Dies lag gemäss Kippele daran, «dass er als einziger Teile der sprecherischen Tätigkeiten, zum Beispiel Editierarbeiten, von seinem Büro aus erledigen kann, da er die entsprechenden Tools auf seinem PC hat».
Diverse Fragen wirft auch der Vergleich der Screenshots mit dem SBS-Arbeitsplanungsdokument auf, das der Beobachter einsehen konnte. Demgemäss verrechnete Gloor etwa eine Sitzung – Teil des Fixjobs – im Stundenlohn. «Sollte er an der Sitzung teilgenommen haben, während er auf Stundenlohn eingebadget war, war er für die SBS sogar ‹billiger›, als wenn er als Bereichsleiter im Monatslohn teilgenommen hätte», sagt Kippele.
Für sie ist der Fall erledigt. Die SBS rechne sauber ab. Seit 2014 beziehe Gloor auch keinen Zusatzsprecherlohn mehr, sagt Kippele. Die Vorwürfe an Gloors Adresse habe sie schon mehrfach zu hören bekommen. Sie seien unberechtigt. Felix Gloor «ist ein langjähriger verdienter Mitarbeiter der SBS in leitender Funktion. Wir haben die Vorwürfe gegen ihn genau geprüft, und wir konnten kein Fehlverhalten feststellen.»
*Name geändert