«Die Stimmlage sollte eher lieblich, naiv bis etwas dümmlich klingen, damit der Kunde überhand hat. Absolute Gesprächstöter und also verboten sind: leierhafte Null-Bock-Stimmlage, Lästern über den Trieb der Männer sowie die Frage: ‹Was suchst du auf dieser Linie?›»

Der Leitfaden ist eng bedruckt. Einzelne Passagen sind fett unterstrichen. «Wie führe ich ein gutes Erotikgespräch?» Die dünne Broschüre wurde den Mitarbeiterinnen der Telesurf AG ausgehändigt. Die Damen sind erreichbar unter einer 0906-Nummer, die offiziell einer Gesellschaft in Panama gehört.

«Verwöhne mich…!» – «Valerie ist wieder da!» – «Plaudern live zum Superpreis»: Das Angebot der 0906-Linien ist beachtlich. Ihre Inserate sind in grossen und kleinen Schweizer Zeitungen zu finden. Tendenz steigend. Beim Bundesamt für Kommunikation sind die Angebote unter dem Titel «Erwachsenenunterhaltung» registriert. Umsatz, Tarifhöhe, Gewinnmarge und Arbeitsverträge sind Teil des Geschäftsgeheimnisses: Die Daten sind der Öffentlichkeit nicht zugänglich – ausser sie gelangen zum Beobachter.

«Auf ein Treffen eingehen»
Telesurf ist eine kleine Firma in Zollikon. Das Handelsregister nennt als Zweck der Aktiengesellschaft: «Erbringen von Informatikdienstleistungen.» Die Firma zahlt ihren 40 Telefonhostessen minutiös abgestufte Leistungslöhne aus. Unter ihnen war auch Maria P., die den Dienst nach einem Jahr verbittert quittierte und ihre Schulungsunterlagen dem Beobachter zukommen liess. Die Geheimnisse der telefonischen Verführung sind durchaus von öffentlichem Interesse.

«Sei charmant. Sei attraktiv. Sei interessant. Private Anrufe haben in der Arbeitszeit nichts verloren. Du hast dich pünktlich an- und abzumelden: fünf Minuten vor Arbeitsbeginn und fünf Minuten danach.»

Maria P., Kindergärtnerin, erlitt mit 57 einen akuten Schub einer Rheumaerkrankung. Nach einem Kuraufenthalt suchte sie eine «einfache Heimarbeit». Die 0906-Nummer wurde stundenweise auf ihren privaten Anschluss in Süddeutschland umgeleitet; die Spielregeln bekam sie persönlich ausgehändigt.

«Angefangen wird mit einer aufmunternden Begrüssung.» Auf der «Flirtlinie» wird zunächst Sympathie bekundet – eine Minute kostet Fr. 4.23. Davon gehen 40 Rappen an Maria P., deren Hauptaufgabe es ist, die Männer auf die «heisse» Linie zu locken. Deren Minutenpreis beträgt Fr. 6.13, die Einstiegsgebühr 39 Franken. Erotisches kommt nur zu diesem Tarif zur Sprache. Wie lotst man einen Kunden zur heissen Gebühr? Ganz einfach: indem man ihm ein Treffen in Aussicht stellt.

«Wenn der Kunde nicht weiss, was er will, dann gehe auf ein Treffen ein!», heisst es in der Anleitung für Telefonhostessen. Verboten ist freilich, «einen genauen Ort anzugeben». Maria P.: «Ich musste jeweils sagen: ‹In einer halben Stunde bin ich frei, ruf doch nochmal an. Auf der anderen Nummer.›» Die «Hausordnung» verbietet allerdings reale Treffs mit Kunden.

Die Geburtsstunde der verlockenden Linie war am 1. Oktober 1991, um neun Uhr morgens: Die PTT eröffnete ihren Telefonkiosk – und nahm damit die tarifpflichtige Erotik in ihr Angebot auf. Der damalige Generaldirektor Felix Rosenberg wurde wenig später wegen Verbreitung von Pornografie angeklagt – und zu satten 20'000 Franken Busse und zu einer bedingten Gefängnisstrafe verknurrt.

Erst das Bundesgericht sprach ihn wieder frei. Livegespräche, befanden die Lausanner Richter, fielen nicht unter den Begriff von unzüchtigen Publikationen. 1997 wurden die 156-Nummern aus dem Verkehr gezogen – und durch solche ersetzt, die mit 0906 beginnen.

«Den Kunden scharf machen»
«Komplimente machen. Scharf machen. Themen aufnehmen und weiterführen.» Maria P.: «Soviel ich weiss, werden alle Gespräche zu Schulungszwecken aufgezeichnet. Ich wurde mehrmals mit meinen eigenen Gesprächen konfrontiert.» Am Monatsende kommt vom Arbeitgeber die Rangliste ins Haus. Platz eins: «Chanel», 51 Stunden; Platz zwei: «Shirley», 24 Stunden. «Michelle» auf Rang 40 schaffte es im Oktober 2002 auf knapp 100 Minuten. «Im Schnitt führte ich vier bis sechs Gespräche in einer Stunde», sagt Maria P. Kaum eines dauerte länger als zehn Minuten. Ab der fünften Minute kassierte sie 45 Rappen, ab acht Minuten 50. Schlussabrechnung für Dezember 2002, bei wenig über 16 Stunden: Fr. 462.90. Das ergibt einen Stundenlohn von knapp 29 Franken.

«Eine Diskussion über guten oder schlechten Verdienst führen wir nicht», schreibt der Arbeitgeber in seinem Rundschreiben: «Das Lohnmodell zeigt deutlich auf, dass man mit längeren Gesprächen gut verdienen kann.» Der Umsatz der Firma dürfte laut dieser Abrechnung im Dezember bei über 120'000 Franken gelegen haben. 15 bis 20 Prozent des Endpreises gehen als Service- und Netzgebühr an den Provider. Der Bruttoumsatz aller 0906-Nummern soll sich laut Swisscom in «mehrstelliger Millionenhöhe» bewegen: In der Schweiz betreiben 600 Inhaberinnen insgesamt rund 22'000 Anschlüsse.

«Spass macht es niemandem»
Im März 2002 hielt das Bundesgericht fest: «Wird eine Person von Telefonhostessen ausgenommen, die ein angebliches Treffen vermitteln, zu dem niemand erscheint, kann Betrug oder Wucher vorliegen.» Ein Kläger hatte während 18 Monaten rund 50'000 Franken für sein Telefonglück investiert – und wartete mehrmals umsonst am vereinbarten Ort.

Dass Sehnsucht und Rechenkünste sich schlecht vertragen, wurde letztinstanzlich gleich ein zweites Mal erkannt. Im August 2002 sprach das Lausanner Gericht jenen Telefonkunden Schutz zu, deren Fähigkeiten nicht ausreichen, um einen einstelligen Frankenbetrag mit dem Faktor 10 zu multiplizieren: Neben dem im Inserat genannten Minutenpreis wird der Telefonsexbetreiber verpflichtet, dem Kunden online zu eröffnen, wie teuer das Gespräch nach zehn Minuten zu stehen kommt.

«Am meisten habe ich von den Anrufern gelernt», sagt Maria P.: «Am Schluss konnte ich auf alles reagieren.» Darüber hinaus gab es auch Schulungen im Kollektiv: in kleinen Hotels, hinter verschlossenen Türen, bei Kuchen und Tee. «Ein Drittel der Hostessen sind Omas, ein Drittel allein erziehende Mütter und ein Drittel Ehefrauen, die das Familienbudget aufbessern möchten. Spass macht es niemandem», sagt die 61-jährige Maria P.

Und doch: «Manchmal sprach ich mit Jungen, die waren so nett und so ehrlich. Und sie glaubten, ich sei wirklich 20 Jahre alt – genau wie sie. Mir blutete das Herz. Ich hätte alles gegeben, um die zu sein, die ich vorgab.»

«Also mal richtig versaut»
«Merk dir: Du machst alles mit. Der Kunde will eine gute Sexfantasie, er will alle Tabus durchbrechen. Wir sind besser als die Frau zu Hause. Verbotene Spiele haben einen extremen Reiz, also mal richtig versaut: Gruppensex, Analsex, Busenficks, Gesichtsbesamung. Komme nur langsam zur Sache. Frage den Kunden ab und zu, ob es ihm gefällt. Wenn du merkst, er ist kurz vor seinem Orgasmus, stelle ihm eine neue Frage. So ziehst du das Gespräch automatisch in die Länge.»

Beschwerden wegen Telefonsex gab es viele. Unter anderem erklärte der Preisüberwacher, er teile das Unbehagen des Konsumentenschutzes. Dennoch hielt er 2002 fest: «Neben der Minutengebühr von zehn Franken gibt es auch billigere Anbieter. Ein Kartell liegt nicht vor.

Seit Bestehen des neuen Fernmeldegesetzes hat jeder Abonnent Anspruch auf eine nicht veröffentlichte Nummer. Die Swisscom schliesst Businessnummern von dieser Regelung ausdrücklich aus. Das Verhalten anderer Carriers ist nicht einheitlich. Die Einhaltung des Jugendschutzes liegt beim Betreiber.

«Nicht zur Sache gekommen»
Paula N., 57, ist eine ernste Frau, verheiratet seit bald 40 Jahren. Ihr Mann ist seit langem invalid; die Rente ist knapp bemessen. Mitte 2001 stiess sie auf ein kleines Inserat in der «Süddeutschen Zeitung»: «Kluge Frauen gesucht! Sehr gute Verdienstmöglichkeit!» Im Vorstellungsgespräch wurde ihr ein «toller Lohn» in Aussicht gestellt – der sich als eher bescheiden erwies. «Erotische Gespräche lagen mir nicht», sagt sie. «Ich habe mich normal mit den Leuten unterhalten.» Der ehemaligen Verkäuferin lag das lockere Gespräch: «Ich spielte den Kumpel. Das kam ganz gut an. Manchmal glitt das Gespräch ins Erotische. Aber sobald es zu den Details ging, lenkte ich ab. Es gelang mir immer wieder, nicht zur Sache zu kommen.»

So kam es, dass sich Paula N. für teures Geld Details von Hubräumen, Modellflugzeugen und missliebigen Vorgesetzten anhörte. Mit einem Mann aus der Südschweiz unterhielt sie sich fast eineinhalb Stunden lang. «Ich wusste nicht, ob er betrunken war oder ob alle Südschweizer so sprechen – ich verstand kein Wort. Ich sagte jeweils ‹Wirklich?› oder ‹Ach so!›. Was der Mann während des Gesprächs anstellte, weiss ich nicht.» Paula N. kann sich gut vorstellen, «dass einige Männer über diese Anschlüsse arm geworden sind. Aber die müssen halt wissen, was sie tun.»

Cornelia Baumgartner ist zeichnungsberechtigt bei der Telesurf AG. Die Bewerberinnen für den Telefonservice müssen sich bei ihr vorstellen; die «Weiterbildungsseminare» werden von ihr organisiert. Sie erteilt Tadel und Lob, erstellt die Einsatzpläne, gibt Tipps und schreibt Rundbriefe an sämtliche Hostessen.

Daniel Lisak, Verwaltungsratspräsident der Telesurf AG, legt sehr grossen Wert darauf, dass seine Firma «keinen Callservice» betreibt: «Was wir anbieten, ist: Konfiguration, Installation von Soft- und Hardware von Voice-Maschinen, technische Ausbildung am System, Clearing und Suche von Personal für unsere Kunden.»

Lisak bestreitet nachdrücklich, dass die Gespräche auf Band festgehalten werden. Auf den Inhalt derselben habe er keinen Einfluss; Umsatzzahlen will er nicht bestätigen. Für weitere Auskünfte, die eigene Firma betreffend, steht Lisak dem Beobachter gern zur Verfügung – zu einem «Stundenansatz von 250 Franken zuzüglich 7,6 Prozent Mehrwertsteuer».