Ein Berg Schulden ist alles, was ihr von ihrem Exmann geblieben sei, erklärt die Frau um die 50 an Schalter drei, den Blick gesenkt. «Der Gang hierhin ist mir schwer gefallen.» Eine Neukundin. Sie nestelt in ihrer Handtasche, zieht mehrere Schatullen hervor.

Urs Lusti nimmt ihren Schmuck entgegen. Auf den ersten Blick scheint er ein ganz gewöhnlicher Banker zu sein: dunkelblauer Kittel, hellblaues Hemd, dunkle Schuhe, gestreifte Krawatte. Doch der Eindruck täuscht: Er leitet die wohl ungewöhnlichste Filiale der Zürcher Kantonalbank, die Pfandleihkasse. Er ist Chef eines vierköpfigen Teams - eines Teams mit einer gewissen Lebenserfahrung, wie er betont.

«Aicha», steht auf einem goldenen Armband der Neukundin, ein Geschenk aus besseren Zeiten. Jetzt muss sich die Geschiedene gedulden, bis der Pfandleiher den Schmuck auf Karat und Gewicht geprüft hat. Statt einer Schalterhalle hat die Pfandleihkasse vier Kabinen. Was sich im Vorraum abspielt, überwacht eine Videokamera. Wer ein Geschäft abwickeln will, muss klingeln.

Aus der Schublade «IWC bis Oris» fischt Lusti einen Katalog aus dem Hängeregister. Zielsicher findet er den Eintrag zur Damenuhr. Neupreis: 1460 Franken. Unter dem Okular sieht er auf Armreif, Fingerringen und Kette eine Prägung: 14 Karat. Doch er muss auf Nummer Sicher gehen. Deshalb schleift er die Schmuckstücke an einem Schieferstein, legt diesen unter eine Abzugshaube mit der Aufschrift: «Achtung, giftige Stoffe». Mit einer Pipette träufelt Lusti Salpeter- und Salzsäure auf den Goldstaub. Das Gold scheint sich aufzulösen. Keine 18 Karat. Beim Test mit der schwächeren Säure verschwinden die Goldstreifen nicht mehr, also 14 Karat. Der Stein im Fingerring leitet nur wenig Strom: Glas, kein Diamant. Alles zusammen: 161,8 Gramm.

1000 Franken für den FamilienschmuckLusti erklärt der Kundin, 14-karätiges Gold belehne die Kasse mit vier Franken das Gramm - in der Regel ein Zehntel des ursprünglichen Preises. «Zusammen mit der Damenuhr kann ich Ihnen ein Darlehen von 1000 Franken anbieten.» Die Kundin zuckt zusammen. «Wollen Sie sich doch einen Verkauf überlegen?» - «Nein, das kommt nicht in Frage. Das ist Familienschmuck.» Mit dem Darlehen wolle sie endlich einen Schlussstrich ziehen und mindestens die Schulden bei Bekannten zurückzahlen. Doch dafür reichen die 1000 Franken nicht. Der Löwenanteil ihres Lohns sei gepfändet.

Für den Kreditvertrag bezahlt sie zwei Franken Grundgebühr, ein Prozent Zins pro Monat, Laufzeit sechs Monate. «Solange Sie den Zins bezahlen können, wird nichts verkauft», beruhigt sie der Leiter der Pfandleihkasse. Den Schmuck lässt er in eine Kartonschachtel gleiten, die er mit einer sechsstelligen Nummer beschriftet. Die Schachtel wird in den Tresorraum gebracht, wo sich hinter einer schweren Eisentür bereits Karton an Karton reiht. Früher nahm die Pfandleihkasse noch Pelzmäntel oder Autos entgegen. Doch die Lagerung ist zu aufwändig und zu teuer. Heute sind 99 Prozent der verpfändeten Gegenstände Schmuck, der Rest Velos, Briefmarken oder Modelleisenbahnen.

Wenn der Zins trotz Mahnung nicht bezahlt wird, geht das Pfand an die Gant. Im Schnitt werden sieben Prozent der verpfändeten Güter versteigert. Fünfmal pro Jahr gibt es eine Gant im ersten Stock der Zürcher Börse Swiss Exchange. Dort riecht es am frühen Morgen nach Putzmittel. Der Empfang heisst hier Réception und versteckt sich hinter Glas. Eine elektronische Anzeigetafel informiert darüber, dass der Aktienindex SMI am Vortag zugelegt hat, auf 8613 Punkte. Ein Kartonschild zeigt den Weg zur Versteigerung.

Obwohl Urs Lusti sagt, er habe «nicht den Plausch, Schmuck von Kunden zu versteigern, der häufig mit Emotionen verbunden ist», schätzt er die Abwechslung im Alltag, die eine Gant bietet. Eine Viertelstunde vor Auktionsbeginn haben sich ein paar Dutzend Leute eingefunden, viele schon leicht angegraut und üppig mit Schmuck ausgestattet. «Hoi. Häsch es guet? Au wider emal da? En Affechelti hütt.» Man kennt sich. In den Vitrinen glänzt, spiegelt und blendet Gold. Es wird nur noch gedämpft gesprochen. Das Publikum schleicht um die Auslagen. Die Blicke schweifen über die Schmuckstücke, verraten aber nicht, was tatsächlich interessiert. Halb verdeckt werden eifrig Zahlen notiert. An der Wand lehnt ein Rennvelo zu 200 Franken, auf dem Tisch liegt eine Ukulele zu 120 Franken. Doch dafür interessiert sich keiner.

Eine Frau mittleren Alters hat sich Nummer 778'062 notiert, eine Uhr, Marke Rado, zum Ausrufpreis von 600 Franken. Sie trägt bereits ein verblüffend ähnliches Modell am Handgelenk. «Vorletztes Mal für 900 Franken ersteigert», flüstert sie. Wenn ein Ehering versteigert werde, berühre sie das schon. Doch wer für 10'000 Franken eine Uhr gekauft habe, wohl wissend, dass er das eigentlich nicht vermöge, mit so einem habe sie kein Erbarmen: «Nein, nicht mit so einem.»

«Eine Longines-Uhr für 360 Fränkli»Dann öffnen sich die Saaltüren. Hektik. Keine Minute später hat das Publikum die Sitzplätze erobert. Die Schnäppchenjäger und Händler sitzen gruppiert, mit gebührendem Abstand zur Konkurrenz. Zwei Sicherheitsbeamte in Anzug und Krawatte lassen ihre Blicke über die Menge schweifen. «Ihr bekommt eine mehrwertsteuergerechte Quittung. Es gilt: Wie gesehen, so gekauft. Wir starten mit einer goldenen Halskette», eröffnet Lusti die Gant.

Es folgt Nummer 775'979. Eine goldene Brosche, vier goldene Ringe, ein Ring mit Grösse 55. «Wir starten mit 620 Franken. 620, 670, 720, 770, 820 - keiner mehr als 820?», fragt der Gantrufer.

Der Schmuck wird den Käufern in Plastiktütchen serviert. Bezahlt wird bar, sofort. Wer kauft, zückt Noten aus einem ganzen Bündel. Der meiste Schmuck geht an einen kleinen Kreis von Bietern, professionelle Händler. Ihr Geschäft läuft gut: Wer das Gold hier leicht unter den Rohstoffkosten erwirbt, verdient sehr gut, wenn er den Schmuck secondhand verkaufen kann. Und etwas weniger, wenn er einen Ladenhüter erwischt und einschmelzen lassen muss.

Es geht Schlag auf Schlag. «Wem darf ich eine Longines-Uhr für 360 Fränkli überreichen? Alles günstig heute», grinst der Gantrufer. Zwei goldene Feuerzeuge mit Inschrift? 600 Franken. Eine Lampe mit Elfenbeingriff? 280 Franken - der Herr im gelben Pullover. Ein Diamantring? 1'500 zum Dritten. Am Ende des Tages ist Ware für 120'000 Franken verkauft.

Die Tradition der Pfandleihe geht zurück auf das Mittelalter. Im 19. Jahrhundert wurden im Zuge einer allgemeinen Liberalisierung in vielen Kantonen die Wucherverbote aufgehoben. Bald stürzten private Pfandleiher viele Arbeiter in Not und Elend. Damals war heiss umstritten, ob der Staat die Pfandleihe übernehmen soll. So warnte Wilhelm Schmidlin, Direktor der Schweizerischen Centralbahn, in einem Referat 1864 an der Versammlung der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft: «Die Arbeiter versuchen sich durch Verpfändungen manchmal Geld zu liederlichen Zwecken zu verschaffen.» Diesem Klub von Vordenkern empfahl er stattdessen: «Das Sparen muss von der unbemittelten Klasse und selbst von denen, die bisweilen in Noth sind, eben so sehr verlangt werden als von den Wohlhabenden.» In diesem Umfeld öffnete die Zürcher Pfandleihkasse 1872 ihre Tore. Selbst für den Bankrat war ihr Erfolg schon kurz nach der Eröffnung nicht nur Grund zur Freude. Er werfe kein günstiges Licht auf die sozialen Verhältnisse in Zürich.

Wer zur Pfandleihkasse kommt, braucht dringend Bargeld. Die Gründe für den Engpass sind vielfältig: eine Versicherung, die nicht bezahlt, eine unerwartet teure Zahnarztrechnung, Lohn, der ausbleibt, oder ein Leben über die Verhältnisse. 26'000 Darlehensverträge wurden letztes Jahr abgeschlossen oder erneuert. Das durchschnittliche Darlehen beträgt 560 Franken. Die Kundschaft ist bunt durchmischt, selbst Kleinbetriebe nutzen die unbürokratische Kreditvergabe. Das Geschäft ist defizitär, denn es ist gesetzlich verankert, dass die Kasse den Gewinn, den ein Pfand bei der Gant abwirft, nicht selbst einstreichen darf. Deshalb ist das Geschäft auch für private Geldhaie völlig uninteressant. Wer nicht mehr auffindbar ist, dessen Geld geht sogar an die Armenkasse, heute das Sozialamt der Stadt Zürich. Immerhin rund 20'000 Franken jährlich.

Spickzettel für fremdsprachige BegriffeEs summt. Urs Lusti drückt einer jüngeren Frau mit Gips und Kleinkind den Türöffner. «Wie geht es? Was haben Sie denn mit Ihrer Hand gemacht?» Er kassiert den Zins von Fr. 132.60. Und wieder summt es. Ein junger Venezolaner holt Pfandnummer 794'439 zurück. Lusti verschwindet im Tresor. Er kommt zurück mit zwei Goldringen, 21,9 Gramm zu 18 Karat. «Alles Gute!» Kurz vor Weihnachten wird Familienschmuck häufig ausgelöst, damit an den Festtagen in der trauten Runde der Schein gewahrt bleibe, erklärt der Leiter der Pfandleihkasse.

Das Telefon klingelt. «Ja», sagt Lusti und legt nach jedem Wort eine Pause ein, «Sie - können - verlängern, putupittal.» Neben dem Schalter klebt ein Spick mit den für ihn wichtigsten tamilischen Begriffen: «putupittal = verlängern». Rund die Hälfte der Kundschaft sind Ausländer mit Wohnsitz in der Schweiz.

Früher leitete Lusti während dreier Jahrzehnte nacheinander vier verschiedene Filialen der Zürcher Kantonalbank. «Ich musste ständig redimensionieren. Das bescherte mir unruhige Nächte. Da wollte ich etwas anderes tun», erinnert er sich. Er kam zur Pfandleihkasse. Wenn er heute an einem Bijouteriegeschäft vorbeigeht, wirft er einen neugierigen Blick ins Schaufenster. «Früher machte ich um Bijouteriegeschäfte einen weiten Bogen.» Und manchmal ertappt er sich beim Zugfahren dabei, wie er beim Gegenüber spienzelt, welches Uhrenmodell es wohl trägt.

Ein Einarmiger bringt einen Reisewecker, Marke Bucherer, den ihm sein Chef einmal geschenkt habe. Die Uhr ist aus Metall. Trotzdem gewährt Lusti ausnahmsweise ein Darlehen von 30 Franken. Er schärft dem Kunden ein, den Wecker nach einem halben Jahr wieder zu holen, denn verkaufen lasse sich so etwas nicht.

Es gebe sehr viele Leute, die ihr Leben nicht im Griff hätten, falsche Prioritäten setzten, Verträge verlieren oder Fristen verpassen würden, so Lustis Erfahrung. «Ihre Geschichten dürfen uns beschäftigen, aber nicht belasten.» Einigen drücken die Angestellten schon einmal eine Broschüre der Caritas in die Hand.

Am Ende des Tages zieht das Team Bilanz: Für je rund 8000 Franken neue und zurückbezahlte Darlehen. 3230 Franken eingenommene Zinsen, 580 Franken Gebühren. «Ein knapp durchschnittlicher Tag», stellt Lusti fest.